[image=46436]„Leitung und Führung“ gehört zu den zentralen Themen des Reformprozesses der evangelischen Kirche. Die Frage „Wie ist Geistliche Leitung zu gestalten?“ wird schon im Impulspapier des Rates der EKD „Kirche der Freiheit“ im Jahr 2006 gestellt. Das Suchen nach dem Besonderen von kirchlichem Leitungs- und Führungshandeln hat in „Geistlich Leiten“ seinen Namen gefunden und einen breiten Diskurs ausgelöst. Zu diesem Thema sind nun Texte in der Reihe „Kirche im Aufbruch“ erschienen.
Einen Schwerpunkt des 60-seitigen Heftes bildet das im Jahre 2010 vom Rat der EKD in Auftrag gegebene Gutachten von Professor Wilfried Härle. Am Beispiel des Theologen Daniel Friedrich Schleiermachers (1769-1834) macht der frühere Vorsitzende der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD grundsätzlich deutlich, dass nicht nur die „Professionellen“ an der Kirchenleitung beteiligt sind, sondern genauso die Gesamtheit der Kirchenmitglieder, die Schleiermacher in seiner Terminologie des 19. Jahrhunderts als „Klerus im weiteren Sinne“ bezeichnet. Das Verhältnis zwischen den „Professionellen“ und dem „Kirchenvolk“ bezeichnet Schleiermacher als „Methode des Umlaufs“. Härles 28-seitiges Gutachten, das hier erstmals veröffentlicht wird, ist darüber hinaus eine grundlegende und hilfreiche Orientierung für eine theologisch verantwortete Kirchenleitung.
Der Leiter des Projektbüros Reformprozess im Kirchenamt der EKD, Oberkirchenrat Thorsten Latzel, entfaltet die Problematik und Aktualität des Begriffs „Geistlich Leiten“. Es gebe, so Latzel in seinem Beitrag „‘Geistlich Leiten‘ – Versuch einer Begriffsschärfung“, vielerorts in der Kirche einen Wunsch nach Leitung, aber nicht danach, geleitet zu werden. »Geistlich« sei in dieser Hinsicht mehr ein „Problemanzeiger“ als eine inhaltliche Bestimmung, so Latzel. Angesichts der starken Veränderungsprozesse in der Kirche seien „strategische Leitung“ und „inhaltliche Richtungsentscheidung“ sehr gefragt. Andererseits falle es offenkundig schwer, diese „strategische Leitungsfunktion“ wahrzunehmen – ohne entweder in ein „rein formales Operationalisieren“ oder ein „normatives Übertheologisieren“ zu verfallen. Latzel: „Im ersten Fall droht die Gefahr, dass das operationale Leitungshandeln Übergewicht gewinnt, es nur noch um Strukturprozesse und Prozessoptimierung geht und Leitung zum theologisch blinden Management wird. Im zweiten Fall steht eine Art von »Verhinderungstheologie« kirchenleitenden Entscheidungsprozessen mehr im Wege, als dass sie dazu befähigt und ermutigt, werden Gegebenheiten tendenziell überhöht und kritische Außenperspektiven bzw. Fremderkenntnisse abgeblockt.“ In beiden Fällen, so Latzel, habe dies problematische Folgen vor allem für die Personen der Leitung und dann auch für deren „Kultur, Strukturen und Instrumente.“
In Diskussionen über „Führen und Leiten“ werde oft das „basisdemokratische Element im kirchenleitenden Handeln“ betont, dass zur „Identität des Protestantismus“ gehöre, so Vizepräses Petra Bosse-Huber (Düsseldorf) in ihrem Beitrag „Geistlich Leiten in der Evangelischen Kirche“. Viele der Kritikerinnen und Kritiker eines verstärkten Leitungshandelns seien, so die Vizepräses der Evangelischen Kirche im Rheinland, biographisch und theologisch in der berechtigten Hierarchiekritik der Nachkriegszeit verwurzelt. Bosse-Huber: „Ich persönlich teile durchaus bestimmte dieser Argumente und Vorbehalte. Dennoch fällt mir auf, dass die Weigerung, Leitungsstrukturen transparent zu machen und sich auf klare Ziele und Verfahrensweisen zu einigen, in vielen Kirchengemeinden und anderen Organisationsformen oft gerade zu unbewussten oder versteckten Machtstrukturen führt. Leitung wird dann unreflektiert abhängig von der Persönlichkeit und dem Leitungsstil der Akteure.“
Die bayerische Regionalbischöfin Susanne Breit-Kessler (München) schreibt in ihrem Beitrag „Es gibt nach wie vor Probleme … und viel zu tun“ zum Führungs- und Leitungsstil in der Kirche: „Es fehlt auf Führungsetagen in der Kirche nach wie vor mancherorts an Lebensfreude und Wertschätzung der eigenen Person und der anderer. Ich-Stärke und Selbsterkenntnis wird als Arroganz fehl interpretiert, echte Selbstkritik ist Mangelware, die Fähigkeit, eigene Fehler einzugestehen, sich zu entschuldigen auch. Selbst- und Fremdwahrnehmung wird zu wenig eingeübt.“
Weitere theologische Impulse gibt Professor Philipp Stoellger (Rostock): Im Unterschied zum menschlichen Geist sei der Geist Gottes der menschlichen Verfügsamkeit entzogen. Insofern markiere die Formel vom „Geistlich Leiten“ ein „Gewahrsein der Unverfügbarkeit des Geistes“, von dem die Leitung bestimmt zu sein habe und dem zu dienen sie verantwortlich sei. Darin, so Stoellger, gründe alle „Machbarkeitskritik“, die in Zeiten „allzu florierender Organisationsentwicklung‘“ immer wieder angebracht sei. Dies scheine im „Eifer der Umstrukturierungen“ gelegentlich aus dem Blick zu geraten. Außerdem gäbe es im protestantischen Verständnis keine „geistliche Leitung“ im Sinne von „geistlichen Ständen“, und das sei auch gut so, denn Kirchenleitung und -verwaltung seien nur „,Mittel zum Zweck‘, nicht mehr, auch nicht Selbstzweck.“ Stoellger: „Die Form der Kirche ist ein Interimsphänomen. Sonst würde Endliches für unendlich erklärt.“
Der Vorsitzende des „Beirates für Leitungsfragen“ und Mitglied der Synode der EKD, Peter Barrenstein (München), schildert in seinem Beitrag „Geistlich Leiten: Perspektiven für die Weiterarbeit“ die Geschichte des Themas und skizziert Vorstellungen für den Aufbau eines deutschlandweiten „Kompetenzzentrums für Führen und Leiten“ in der evangelischen Kirche. Barrenstein: „Parallel zu den heute bereits vorhandenen Fort- und Weiterbildungsangeboten der Landeskirchen, die auch weiter erhalten bleiben sollen, soll so eine Angebotspalette geschaffen werden, die die eingangs skizzierten Defizite überwindet, und damit die Wahrnehmung vorhandener individueller Potenziale der zu Führenden ermöglicht und deren weitgehende Erschließung eröffnet. Auf diese Weise, so Barrenstein, sollen operative und strategische Zielvorgaben „deutlicher definiert“ und „handhabbarer“ gemacht werden.“
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