Schüler sitzen in Kabul fest: "Plötzlich ist es so real"

Die ursprünglich aus Afghanistan stammenden Zwillinge waren mit ihren Eltern und ihren Geschwistern in den Sommerferien in die alte Heimat gereist.

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Symbolfoto | Foto: Pixabay

Wolfenbüttel. Drei Schüler der Henriette-Breymann-Schule (HBG) sitzen derzeit mit ihrer Familie in Kabul fest. Ein Familienbesuch wurde für die achtköpfige Familie zum Albtraum - denn in dem Land, das einst ihre Heimat war, herrscht Terror, Zerstörung und Unruhe. Niemand weiß, wann die Familie in ihre neue Heimat Wolfenbüttel zurückkehren kann.


"Es ist sehr merkwürdig, dass das, was man sonst nur aus den Nachrichten kennt, auf einmal so realistisch wird", sagt HBG-Schulleiterin Katrin Unger im Gespräch mit regionalHeute.de. Die Nachricht, dass drei Schüler ihrer Schule im Krisengebiet festsitzen, dem Taliban-Terror ausgesetzt sind und ungewiss ist, wann sie wieder in Deutschland sein werden, erhielt Katrin Unger eine Woche vor Schulbeginn. Per Mail informierte sie der Vater ihrer Schüler - ein Zwillingspaar, das die achte Klasse besucht - darüber, dass das dritte Kind der Familie nicht wie geplant an der HBG eingeschult werden könne, da man in Kabul sei und eine Ausreise nicht möglich sei. "Ich habe dann sofort mit dem Vater Kontakt aufgenommen und gefragt, was wir tun können", berichtet Katrin Unger, die noch immer fassungslos ist.

Die Familie war am Anfang der Sommerferien nach Kabul gereist, um ihre Familie zu besuchen. "Natürlich ist immer die erste Frage, warum die Familie überhaupt nach Afghanistan geflogen ist. Tatsächlich ist die Familie mit einer Portion guten Glaubens dort hingefahren. Und mit dieser Einschätzung sind sie ja auch nicht ganz alleine. Da gab es Politiker, die die Situation ebenfalls falsch eingeschätzt haben", sagt sie. Eine Rückreise der Familie, das jüngste Kind ist erst eineinhalb Jahre alt, war dann einfach nicht mehr möglich. "Sie wurden einfach überrascht. Es kam so plötzlich. Auf einmal waren die Taliban da und die Flughäfen dicht. Das muss genau so gewesen sein, wie man es auch in den Medien wahrgenommen hat. Und die Familie wollte mit den kleinen Kindern dann nicht in das Gewimmel", versucht Katrin Unger die Entscheidung der Familie zu erklären.

Angst und Unsicherheit begleiten den Schulalltag


Viele Schüler und Lehrer seien sehr betroffen, erzählt Katrin Unger. Es herrsche Angst und große Unsicherheit unter den Mitschülern und den Lehrkräften. Besonders bei denjenigen, die das Geschwisterpaar gut und näher kennen. "Es gibt viele Lehrkräfte, die sind sehr betroffen. Und je näher die Lehrer und Schüler an den Kindern dran waren, desto größer ist die Anteilnahme. Denen hat es schon den Einstieg und die Wiedersehensfreude sehr verhagelt."

Die Situation in Afghanistan werde in der Schule nun intensiver thematisiert, um aufzuklären und Angst und Unsicherheit zu nehmen. "Da sind jetzt zwei leere Plätze. Und es war von vornherein klar, dass die Kollegin das mit den Kindern thematisieren wird. Die Schüler mussten Hintergründe erfahren und natürlich haben wir auch versucht, sie zu beruhigen. Aber wir haben ihnen auch deutlich machen müssen, wo und warum man sich Sorgen machen muss", erzählt Unger.

Kontakt wird weniger


Der Kontakt sei nach wie vor da. Schüler, Lehrer und auch Katrin Unger selbst, versuchen Kontakt zu der Familie zu halten. Das werde aber immer schwieriger, sagt sie. Oftmals beschränke sich der Kontakt auf kurze Nachfragen. Zudem sei spürbar, dass die Verbindung immer schlechter werde. Beim letzten Kontakt am Dienstag berichtete ein Sohn der Familie, man wolle versuchen über Land nach Pakistan zu gelangen. Ob das stimmt, weiß die Schulleiterin nicht. Seither hat es jedoch keine Kommunikation mehr gegeben. "Ich habe es selber heute noch einmal versucht. Und auch die Schüler haben es versucht. Aber leider niemanden erreicht."

Ein weitere Kontakt zur Familie in Kabul konnte über eine Lehrerin hergestellt werden, die selbst afghanische Wurzeln hat. "Der Ehemann der Kollegin hat mit dem Vater über Facebook Kontakt. Ansonsten versuchen die Schüler via Nachricht oder Videoschalten mit ihren Mitschülern in Afghanistan zu kommunizieren", erzählt Katrin Unger, die weiß, dass die Familie bei Verwandten am Stadtrad von Kabul mehr oder weniger sicher untergebracht ist. "Die Schülerin hat berichtet, dass sie nachts manchmal Schüsse hört und sich als Mädchen nicht mehr nach draußen traut", so die Schulleiterin, die bereits versucht hat, einige Hebel in Gang zu setzen, um die Familie schnellstmöglich aus Afghanistan zu holen. Doch bei Auswärtigen Amt hat sie bisher nichts erreichen können. "Das verstehe ich natürlich auch. Da glühen die Leitungen jetzt", zeigt sich Katrin Unger zwar verständnisvoll, aber nicht weniger besorgt. "Man mag sich das gar nicht vorstellen, dass eine Familie mit sechs Kindern, die hier in Wolfenbüttel ihre neue Heimat gefunden hat und in der alle, außer der Mutter, einen deutschen Pass haben, nicht ausreisen und in ihre jetzige Heimat zurückkehren dürfen."

Kultusministerium hat sich eingeschaltet


Anfänglich sei Katrin Unger unsicher gewesen, ob sie aktiv werden solle, um bei der Ausreise der Familie zu helfen. Nachdem sich aber der Vater ganz deutlich dafür ausgesprochen hat und um Hilfe bat, hat sie alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Bisher ohne Erfolg. Auch das Kultusministerium hat inzwischen Kontakt zu Katrin Unger aufgenommen und um einen Sachstand gebeten. Vom Ministerium wurde sie auch gebeten, an die Öffentlichkeit zu gehen. Ebenso hätten der Landkreis und auch Politiker versichert, dass man sich einsetzen werden. Der Linke-Bundestagsabgeordnete Victor Perli hat sich bei Katrin Unger gemeldet und ihr zugesichert, dass man das Thema in den Innenausschuss des Bundestags eingebracht habe. Perli erklärte in einem Presse-Statement dazu: "Ich mache mir große Sorgen um die Familie. In Absprache mit der Landrätin habe ich unmittelbar das Auswärtige Amt eingeschaltet und um Unterstützung gebeten. Das Ziel ist eine schnelle Rückkehr der Familie.“

"Ich war nicht sicher, ob ich damit an die Öffentlichkeit gehen soll. Aber nachdem sogar das Kultusministerium darum gebeten hat, das zu tun, bin ich aktiv geworden. Und dann wurde es zum Selbstläufer. Die Sache nimmt jetzt Fahrt auf und das ist auch gut so. Das Ministerium, der Landkreis und auch die Politiker hier haben ganz andere Ebenen und Möglichkeiten, da etwas zu bewirken", so Katrin Unger und hofft, dass sie ihre Schüler und deren Familie bald wieder in Wolfenbüttel empfangen kann. Wann das sein wird, ist ungewiss.


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