Diese Frage stellten die Referenten Silvia Cortella von auris, einer Beratungsstelle für Hörgeschädigte und Thomas Sodomann vom Niedersächsischen Institut für die Gesellschaft Gehörloser und Gebärdensprache vor ihrem Fachvortrag im Solferino über Gehörlosigkeit in den Raum. Für die gehörlosen Gäste übersetzten zwei Dolmetscherinnen durchgehend den Vortrag in Gebärdensprache.
Nachdem Silvia Cortella die vielen Unterschiede innerhalb der Stufen von Schwerhörigkeit bis zu gänzlicher Taubheit erörterte, verwies sie auf das nicht ganz korrekte Wort „taubstumm“, welches sich sogar im deutschen Duden (z.Z. mit einem Hinweis vermerkt es nicht anzuwenden!) durchgesetzt hat . „Das Wort ist komplett falsch. Kein Mensch, der taub ist, ist automatisch stumm. Taube Menschen haben die gleichen Sprachorgane wie Hörende. Taube Menschen kommunizieren nur auf anderen Wegen, die der Gebärdensprache.“
Damit beantwortete sie die Leitfrage des Vortrages. „Nein, Gehörlos bedeutet nicht gleich Sprachlos.“ Für Gehörlose sei die Gebärdensprache je nach Zeitpunkt ihrer Ertaubung ihre Muttersprache. Probleme treten besonders dann auf, wenn hörende Eltern ein taubes Kind zur Welt bringen, da die meisten Eltern auf ein Hör-Implantat setzten und die eigene Aneignung der Gebärdensprache verweigerten.
Im zweiten Teil des Vortrages stellte sich zunächst Thomas Sodomann vor. Er selbst ist seit nach seiner Einschulung von an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit betroffen. Und doch trug er seinen Teil oral und gut verständlich vor. Sodomann stelle die Historie der Gehörlosen vor. Wie sie ausgegrenzt wurden, sich die Lage zwischenzeitlich besserte und wie von 1880 bis 1945 „die Welt für die Gehörlosen unterging“. In dieser Zeit herrschte Gebärdenverbot. Gehörlose wurden Zwangssterilisiert und vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Sie durften weder Vereinen beitreten noch beruflich etwas anstreben, was außerhalb handwerklicher Tätigkeiten lag.
„Das Telefon war übrigens ursprünglich eine Erfindung für Gehörlose“, überraschte Sodomann die Zuhörer. „Alexander Graham Bell war wie der Großteil der europäischen Gesellschaft ein Gegner der Gebärdensprache. Trotzdem heiratete er eine schwerhörige Frau und da er, um sie zu rufen, nicht dauernd die Treppe hoch schreien wollte, musste eine neue Erfindung Abhilfe schaffen.“
Auch 1960 herrschte noch ein Sprachzwang, welcher mit den ersten Hörgeräten gefördert wurde.
Mit der Wiedereinführung des Fingeralphabetes 1970 folgte auch 1975 eine technische Neuerung, das Schreibtelefon als Kommunikationsmittel unter Gehörlosen. Seit 1980 begann der Kampf um die Anerkennung der Gebärdensprache als eigenständige Sprache, welcher erst in diesem Jahrhundert anerkannt wurde.
Doch auch heute noch gelten gehörlose Menschen als ungebildet. „Fünfjährige, die taub sind, haben beispielsweise einen viel kleineren Wortschatz als hörende Fünfjährige. Das ist bis heute so und liegt leider daran, dass es in Deutschland noch immer zu wenig gebärdensprachlich unterstützende Bildungsmöglichkeiten für Gehörlose gibt. Das bedeutet aber nicht, dass sie dumm sind“, erklärte Sodomann. Es gebe zum Beispiel Fälle, bei denen Gehörlose nach dem Realschulabschluss keine gehörlosen-freundliche Möglichkeit, vom Bildungsniveau her, fanden, um ihr Abitur zu machen. Und nicht nur in der Bildung, auch in den Medien gibt es noch immer Defizite. Optionale Untertitel für Gehörlose sind immer noch nicht der Normalfall. „Im Gegensatz zu den USA hängen wir sehr weit zurück“, bedauerte Sodomann.
Doch untereinander haben Gehörlose eine ganz besondere Verbundenheit. Die Referenten bezeichneten es sogar als eine eigene Kultur. „Zwischen tauben Menschen besteht von vorn herein eine besondere Verbindung. In Gebärden gibt es kein Siezen. Und auch der Nachname ist nicht von Bedeutung. Es ist einfach alles viel persönlicher!“, so Sodomann.
Im Oktober geht es mit der Fachvortragsreihe im Solferino weiter. Am Mittwoch, den 17. Oktober um 19 Uhr, wird Dr. med. Jürgen, Schierenbeck, Facharzt für Neurologie einen Vortrag zum Thema Multiple Sklerose halten.
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