Wolfenbüttel. Was haben motorisierte Zweiräder, Bäume und der demographische Wandel gemeinsam? Sie sind die Ursache für viele Verkehrstote in Deutschland. Warum dies so ist und welche Maßnahmen man dagegen ergreifen kann, erzählte Unfallforscher Siegfried Brockmann am Donnerstag beim 17. Verkehrspolitischen Forum der Verkehrswacht Wolfenbüttel.
Vorsitzender Bernd Gutsche freute sich, wieder einen hochkarätigen Referenten gewonnen zu haben. Wenn es irgendwo krache, werde er hellhörig. Siegfried Brockmann ist der Leiter der Unfallforschung der Versicherungen (UDV). Mit 21 Mitarbeitern setzt sich die UDV durch Forschung, Beratung, Kooperation und Öffentlichkeitsarbeit für die Verbesserung der Sicherheit und für Unfallvermeidung im Straßenverkehr ein. Die UDV analysiert reale Unfälle und pflegt diese Daten in die Unfalldatenbank der Versicherer ein. Aufgrund der umfassenden Daten können neben Unfallursachen auch technische Sicherheitssysteme auf ihre Wirksamkeit hin untersucht werden.
Motorradfahrer leben gefährlich
Viele tödliche Unfälle gebe es, so Brockmann, in den Reihen der Motorradfahrer zu beklagen. Obwohl sie kaum Kilometer "abreißen", gibt es hier viele Unfälle mit jeder Menge Toten. Dabei seien Motorradfahrer keineswegs immer das Opfer von unaufmerksamen Autofahrern, besonders Sportpiloten würden ihre hoch gezüchteten Maschinen nicht beherrschen. Das Risiko, auf einem Motorrad getötet zu werden, ist 14-mal höher als im Auto. Grund: Der Stand der Sicherheitstechnik im Auto hat sich enorm verbessert: elektronische Fahrhilfen, Airbags und sichere Fahrzeugzellen haben geholfen, dass sich die die Zahl der Toten zwischen 1992 und 2012 um 72 Prozent reduziert habe. An diesem Sicherheitsfortschritt nehmen die Motorräder nicht teil. Hier gab es nur einen Rückgang um 35 Prozent. Ein Wagen ohne den Bremsassistenten ABS sei, so Brockmann praktisch unverkäuflich, beim Motorrad werde dieser Helfer dagegen nur sehr zögerlich eingebaut. Ab 2016 müssen die Motorradbauer neue Modelltypen mit mehr als 125 Kubikzentimetern Hubraum verbindlich mit ABS ausrüsten. Ab 2017 gilt diese Pflicht für alle zugelassenen Neufahrzeuge. Auffällig: Mehr als die Hälfte der Außerortsunfälle sind vom Zweiradfahrer selbstverschuldet. Die meisten selbstverschuldeten tödlichen Unfälle passieren beim Abkommen von der Straße in Kurven, gefolgt von selbst verursachten Kreuzungsunfällen. Aber auch bei den meisten anderen schweren Unfällen liege der Schlüssel in einer besseren Einschätzung der Situation und der potentiellen Gefahr.
Baumunfälle in Niedersachsen ein großes Thema
Aufmerksam verfolgten die Besucher den Vortrag. Foto:
Baumunfälle seien immer noch die häufigste Einzelursache von tödlichen Verkehrsunfällen auf Niedersachsens Landstraßen. Wie schrecklich Unfälle an Bäumen enden und wie wenig Seitenairbags oder die Fahrzeugstruktur zur Abmilderung des Aufpralls beitragen können, hätten Versuche gezeigt. Bei einem Crash mit 90 km/h, eine durchaus realistische Geschwindigkeit in Alleen, in denen die Bäume ungeschützt am Straßenrand stünden, zerteilt oder zerfetzt der Baum das Auto regelrecht. Brockmann: "Die Insassen haben dann keine Überlebenschance mehr." Deshalb sei es wichtig, dass die Verantwortlichen die Probleme erkennen und die richtigen Maßnahmen ergreifen, zumal die Autofahrer Alleen subjektiv als wenig gefährlich empfinden würden. Dabei sei Schutz zumindest in Alleen kein Hexenwerk. Bevorzugte und erfolgreiche Maßnahmen: Schutzplanken und Geschwindigkeitsbegrenzungen mit Kontrolle. So einfach könnten Stellen, an denen immer wieder schwere Baumunfälle passieren, fast vollständig entschärft werden, ohne dass dabei die Kettensäge oder die Axt zum Einsatz kommen müssten. Auf Neuanpflanzungen sollte seiner Meinung aber verzichtet werden. "Hierfür gibt es sicher besser geeignete Standorte", so der Unfallforscher.
Demographischer Wandel – auf dem Weg zur alten Gesellschaft
Das Thema ältere Verkehrsteilnehmer sei, auch wenn es kaum jemand wahrhaben möchte, ebenfalls aktuell. Hauptunfallverursacher seien zwar nach wie vor die jüngeren Fahrer zwischen 18 und 24 Jahren. Das bedeute aber nicht, dass man sich in Sachen ältere Verkehrsteilnehmer zurücklehnen dürfe. In wenigen Jahrzehnten werde jeder dritte Deutsche über 65 Jahre alt sein. "Deshalb müssen wir uns die Frage stellen, was das für den Straßenverkehr bedeutet – und zwar nicht nur für den Auto fahrenden Senior, sondern auch für den älteren Fußgänger und Radfahrer", unterstrich Brockmann. Schon heute seit jeder zweite getötete Radfahrer und jeder zweite getötete Fußgänger älter als 65 Jahre. Fakt sei: im Alter nehme die Fähigkeit, sich zu konzentrieren, eine Situation richtig einzuschätzen, rapide ab. Die im Laufe der Jahre erworbene Routine könne dies irgendwann nicht mehr kompensieren. Senioren über 75 Jahre verursachten so Unfälle, in die sie verwickelt seien, selbst. „Ich will niemandem den Führerschein wegnehmen“, erklärte der Unfallexperte Brockmann. Senioren sollten aber zu einer begleiteten Testfahrt verpflichtet werden. Im Anschluss soll es ein vertrauliches Beratungsgespräch, zum Beispiel mit einem psychologisch geschulten Fahrlehrer, über die Fahrtauglichkeit, jedoch keinen Zwangseinzug der Fahrerlaubnis geben. „Die Fahrer sollen selbst entscheiden, aber über ihre Fähigkeiten Bescheid wissen. Je länger jemand einen Führerschein hat, desto eher hält er sich für einen souveränen Fahrer.“
Bis zum selbstfahrendem Auto in der Stadt wird es noch lange dauern
Das Helferteam der Verkehrswacht kümmerte sich um den reibungslosen Ablauf der Veranstaltung. Foto:
Eine Lösung für all diese Probleme könnten selbstfahrende Fahrzeuge sein. Bis die sich aber durch den Stadtverkehr schlängeln, werde es noch eine lange Zeit dauern. Zu komplex sei die Situation im Stadtverkehr. Dafür reiche die Rechenleistung und künstliche Intelligenz der Computer noch nicht aus. "Zwar sind wir nahe daran, auf Autobahnen das Fahrzeug für gewisse Zeit autonom fahren zu lassen, aber da fahren ja alle in der gleichen Richtung, es gibt keine Kreuzungen und erst recht keine Fußgänger oder Radfahrer", sagt Brockmann. Aber selbst für den vergleichsweise einfachen Anwendungsfall Autobahn seien noch viele juristische Fragen zu klären. Dabei könne man keinen Weg gehen, bei dem nicht in jedem Moment die Verantwortlichkeiten klar seien.
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