Zehn Jahre Agenda-Politik: AWO fordert umfangreiche Nachbesserungen




„Der mit den Hartz-Reformen verbundene hohe Anspruch konnte nicht verwirklicht und viele Ziele konnten nicht erreicht werden“, kommentiert der Vorstandsvorsitzende des AWO-Bezirksverbandes Braunschweig, Rifat Fersahoglu-Weber, den zehnten Jahrestag der Agenda 2010 und ergänzt: „Trotz einiger wichtiger damaliger Neuerungen haben die Regelungen derartige Nachteile, dass eine umfassende Überarbeitung notwendig ist. Die AWO setzt darauf, dass die Nachbesserungen in der kommenden Legislaturperiode ernsthaft angegangen werden.“

Die AWO sehe noch immer vor allem im Hinblick auf die Berechnung der SGB-II-Regelbedarfe gravierenden Nachbesserungsbedarf. Nachdem das Bundesverfassungsgericht im Februar 2010 eine verfassungsgerechte Neuberechnung des Existenzminimums forderte, fehle derzeit noch immer eine transparente Berechnungsgrundlage. „Der Regelbedarf soll nicht allein auf der Grundlage der rein quantitativen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe festgelegt, sondern durch qualitative Erhebungen ergänzt werden, die Teilhabe differenzierter messen kann“, fordert Fersahoglu-Weber. Das Ergebnis wären realistischere Beträge: „Ein bedarfsdeckendes Existenzminimum kann heute im Grunde nicht unter 450 Euro liegen“, betont der Braunschweiger AWO-Vorstandsvorsitzende.

Neben der Höhe eines bedarfsdeckenden Regelbedarfs sei auch die Frage der Zumutbarkeit von Arbeitsangeboten für Arbeitssuchende neu in den Blick zu nehmen. Derzeitige Praxis im SGB II ist das Prinzip: „Jede Arbeit ist zumutbar“. Die AWO fordert, die Zumutbarkeit auch an Faktoren wie der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, der Nähe zum Wohnort und vor allem an einer auskömmlichen Entlohnung auszurichten. „Doch allein durch eine Neudefinition der Zumutbarkeit lässt sich eine gerechte Entlohnung nicht umsetzen“, weiß Fersahoglu-Weber. Dass so viele Menschen frustriert seien, weil sie selbst mit einer Berufstätigkeit keine Chance hätten, für sich selbst zu sorgen, sei nicht hinnehmbar. Die Lösung sehe die AWO in einer flächendeckenden Lohnuntergrenze von 8,50 Euro pro Stunde.

Ein weiteres Problem aus Sicht der AWO seien die Sanktionen im SGB-II-Bezug für Jugendliche. Besonders junge Menschen könnten extrem schnell mit der Streichung der gesamten Leistungen sanktioniert werden. „Dabei muss sich eine gerechte Sozialpolitik der Jugendlichen annehmen und nach den Hintergründen fragen, statt primär Sanktionen und möglichen Leistungsmissbrauch im Blick zu haben“, sagt Fersahoglu-Weber. Während ein erheblicher Teil der Leistungsberechtigten seine Rechte gar nicht geltend macht, würden andere durch die 100-prozentige Leistungskürzung aus dem Hilfesystem gedrängt. In der Folge rutschten Jugendliche oft in Kriminalität und zweifelhafte Freundeskreise. Dort, wo die Jugendlichen noch bei ihren Eltern leben, bestrafe man mit drastischen Kürzungen die ganze Familie. Die AWO fordere daher bei einer grundlegenden Überarbeitung des Sanktionsinstrumentariums die verschärften Sanktionen für unter 25-Hährige zu streichen und statt dessen besondere Hilfen vorzusehen.

Es zeige sich zudem eine Überforderung der Jobcenter. Den Mitarbeitern fehle es an Ausbildung und Zeit, die Problemlagen der Betroffenen zu erkennen. „Es ist nun einmal die Lebenslüge von Hartz IV, dass man jeden schnell in Arbeit bringen könne. Das ist ein Irrglaube“, sagt Fersahoglu-Weber. Das zeigten auch die Zahlen: Bei den Erwachsenen Arbeitslosengeld-II-Beziehern sei mehr als die Hälfte durchgängig länger als zweieinhalb Jahre im Leistungsbezug. Rund 40 Prozent hätten keinen Ausbildungsabschluss, ähnliches gelte für Menschen mit Behinderung oder schwerwiegenden gesundheitlichen Einschränkungen. Viele wiesen gleichzeitig mehrere Problemlagen auf, die eine Integration in den Arbeitsmarkt verhindern.

Die AWO fordere den Aufbau eines Sozialen Arbeitsmarktes und habe hierfür ein eigenes Modell entwickelt. „Ziel unseres Modells ist es, schwer vermittelbare Menschen schrittweise und behutsam an den Arbeitsmarkt heranzuführen, aber auch, jenen Menschen eine Chance auf Teilhabe zu bieten, für die dieses Ziel dauerhaft zu hoch greift“, erklärt Fersahoglu-Weber das AWO-Konzept. Es beinhalte zudem einen individuell zugeschnittenen Stufenplan und sehe die Möglichkeit einer sozialpädagogischen Begleitung und Qualifizierung der Betroffenen vor. Die AWO unterstütze darüber hinaus das Modell des Passiv-Aktiv-Transfers, wonach Geldleistungen, die bisher für die Unterstützung von arbeitslosen Menschen verwendet würden, stattdessen für die Finanzierung von Arbeitsplätzen genutzt würden.

Der Anspruch, „Hilfe aus einer Hand“ zu bieten und alle Menschen möglichst an Erwerbsarbeit heranzuführen, sei im Grunde richtig gewesen und sei es noch immer. Die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe habe das das Hin- und Herschieben der Betroffenen zwischen den Hilfesystemen beendet. Auch sei positiv zu bewerten, dass durch die Hartz-Reformen endlich begonnen worden sei, über die Alleinerziehenden zu reden und Konzepte zu entwickeln, wie deren Situation verbessert werden könnte.


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