Afghanistankrise: So war der Krieg für einen Soldaten aus der Region

Der Schöninger Marco Graf war 2009 in Afghanistan, als der Konflikt für die Bundeswehr seine heißeste Phase erreichte. Im Gespräch erzählt er von seiner Einsatzerfahrung.

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Marco Graf 2009 in Afghanistan. Im Einsatz sei man ständig unter Anspannung. Das mulmige Gefühl fahre zu jeder Zeit mit.
Marco Graf 2009 in Afghanistan. Im Einsatz sei man ständig unter Anspannung. Das mulmige Gefühl fahre zu jeder Zeit mit. | Foto: Privat

Region. Nach 20 Jahren endet heute mit dem Abzug der letzten amerikanischen Soldaten vom Kabuler Flughafen der Krieg in Afghanistan. Zumindest für die Soldaten der NATO-Staaten, die seit 2001 in verschiedenen Operationen in Afghanistan eingesetzt sind. Fast von Anfang war auch die Bundeswehr dabei: Wo der Einsatz am Anfang als Aufbauarbeit und "Brunnenbaumission" erklärt wurde, geriet die deutsche Truppe immer mehr in einen Kampfeinsatz. In einen Krieg, wie der Einsatz später genannt wurde. Erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg hatten deutsche Streitkräfte in Afghanistan Verwundete und auch Gefallene zu beklagen. Auch der Schöninger Marco Graf ging als Kampfmittelbeseitiger an den Hindukusch. Mit regionalHeute.de spricht der ehemalige Hauptfeldwebel über die Einsatzerfahrung, die ihn auch nach der Rückkehr in die Heimat wieder einholte.


Im Sommer 2001 kam Marco Graf als Wehrdienstleistender zur Bundeswehr. Einige Monate vor den Anschlägen vom 11. September, die die Weltpolitik nachhaltig auf den Kopf stellen sollten. Angefangen mit Operation "Enduring Freedom", in der die Amerikaner mithilfe der NATO und vom UN-Sicherheitsrat gedeckt, das Talibanregime in Afghanistan stürzten. Für den damals Gefreiten Graf war das ganz weit weg. Er hatte sich gerade entschieden seinen Wehrdienst freiwillig zu verlängern, sollte 2002 in den Kosovo. Die Anschläge habe er zu Hause im Fernsehen live verfolgt. Natürlich sei er geschockt gewesen, aber über die Konsequenzen sei er sich damals nicht so sehr im Klaren gewesen. "Ich war vielleicht einfach zu jung um mir da besondere Gedanken zu machen", erzählt der heute 42-Jährige. "Am Wochenende gings für mich zum Fußball. Da hast du dir politisch einfach nicht solche Gedanken gemacht."

Marco Graf heute. Der mittlerweile 42-Jährige engagiert sich ehrenamtlich im Amateurfussball. Er ist unter anderem Vorsitzender des FC Heeseberg.
Marco Graf heute. Der mittlerweile 42-Jährige engagiert sich ehrenamtlich im Amateurfussball. Er ist unter anderem Vorsitzender des FC Heeseberg. Foto: Niklas Eppert


Hinterfragt habe er das damals nicht, er sei ohnehin mit der Einsatzvorbereitung auf den Kosovo beschäftigt gewesen. Die Kosovo-Truppe, kurz KFOR, war damals bereits ein eher ruhiger Einsatz. Die Kampfhandlungen im mittlerweile zerfallenden Jugoslawien waren größtenteils eingestellt, die Deutschen und ihre Verbündeten leisteten vergleichsweise nah an der Heimat Aufbauarbeit. So nah an zu Hause, dass sich Soldaten dort sogar bis zu 14 Tage Heimaturlaub nehmen konnte. Einmal, erzählt Graf, sei der damalige Bundespräsident Johannes Rau dort zu Besuch gewesen. Natürlich seien die Sicherheitsvorkehrungen hoch gewesen, aber eine wirkliche Bedrohung habe es damals nicht gegeben. Kein Vergleich zu Afghanistan, speziell in den Jahren 2008 bis 2010. Der heißen Phase des Einsatzes, in die 2009 auch der damalige Oberfeldwebel Graf kam.

Die Feuerwerker und die letzte Kippe


Im Jahr 2009 schließlich habe man ihn angesprochen. Ob er sich vorstellen könne nach Afghanistan zu gehen, schon Ende des Jahres. Erst einmal habe er nein gesagt. Marco Graf lacht. "Der Offizier hatte mir damals eine 'Ja oder Nein'-Frage gestellt. Ich habe ehrlich geantwortet." Ganz ernst sei das nicht gemeint gewesen. Am Ende sei er doch gegangen. Er war zwar gerade frisch aus der Elternzeit, aber sollte er allein bleiben, während die Kameraden in den Einsatz gingen? Nein. Graf ging also an den Hindukusch, für vier Monate. Als Kampfmittelbeseitiger, oder 'Feuerwerker', wie die Sprengstoffexperten im Bundeswehrjargon heißen, bestieg der damals 30-Jährige das Flugzeug nach Fayzabad in Nordafghanistan.

Soldaten aus dem Westen kommen in Afghanistan in eine andere Welt. Das Klima, die Landschaft, die Kultur. Aber auch das Lagerleben unterscheidet sich von dem in der Kaserne. Er habe sich wieder umgewöhnen müssen, erzählt Graf. Die Soldaten hätten zwar auch Freizeit, die Familie sei aber weit weg, außerdem sei man nie wirklich allein. Und dann die ewige Anspannung. "Du hast ständig ein mulmiges Gefühl", erzählt der Ex-Soldat. Vor allem dann, wenn es auf Patrouille ging. Man habe gerade in dieser Zeit viel von den Angriffen und Anschlägen auf die Kameraden im nur 2,5 Autostunden entfernten Kunduz gehört. Als 'Feuerwerker' musste er häufig das Lager verlassen. Wurde Munition aufgefunden, mussten Graf und seine Kameraden den Fund etwas außerhalb vernichten. Auf Patrouille dagegen war die Gefahr nie genau zu erkennen. Jeder Reiskocher, jede verrostete Kaffeekanne, die am Wegesrand lag, konnte eine IED sein, eine improvisierte Sprengfalle. Der Adrenalinspiegel raste teilweise hoch und fiel genauso schnell wieder ab. Ein oft stattfindender Wechsel zwischen Anspannung und Müdigkeit sei das. Gerade in seinem Berufsfeld.

Graf und sein Trupp vernichteten sichergestellte Munition wie auf die auf diesem amerikanischen Symbolbild. Der gefährlichste Teil war aber das Entschärfen improvisierter Sprengsätze.
Graf und sein Trupp vernichteten sichergestellte Munition wie auf die auf diesem amerikanischen Symbolbild. Der gefährlichste Teil war aber das Entschärfen improvisierter Sprengsätze. Foto: pixabay


Zur Entschärfung hatten die Kampfmittelbeseitiger einen ferngesteuerten Roboter. Im Zweifel mussten sie aber doch selbst Hand anlegen. "Dafür hatten wir einen Schutzanzug, der angeblich einen Kilo TNT aushält", erklärt Marco Graf, "Die Hände waren aber trotzdem frei." Er und seine Kameraden hielten sich mit Galgenhumor über Wasser. Sie gaben sich etwa gegenseitig eine "letzte Zigarette" bevor der Freiwillige an den Sprengsatz ging. Bei Graf und seinem Kontingent ging alles gut. Fayzabad wurde von größeren Gefechten und Anschlägen verschont. Trotzdem holte der Krieg den damals 30-Jährigen doch noch ein. Etwas später, in der Heimat.

Warum er und nicht ich?


Graf war kaum ein paar Wochen zu Hause, als die Nachricht kam. Die Soldaten, die den Posten von Grafs Gruppe übernommen hatten, waren angesprengt worden. Eine nicht aufgeklärte IED hatte einen Radpanzer Eagle, denselben, den Graf noch einige Wochen zuvor gefahren war, getroffen. Drei Soldaten ließen dabei ihr Leben, mehrere wurden teils schwer verwundet. Darunter auch ein Feldwebel, den Graf seit Jahren kannte. Sie hatten gemeinsam die Ausbildung zum "Feuerwerker" gemacht, hatten sich regelmäßig gesehen. An seinem letzten Tag in Afghanistan teilten sich Graf und der nun im Koma liegende Kamerad die beiden Bierdosen, die einem einzelnen Soldaten zustanden.

Bis in die 1970er Jahre hinein galt Afghanistan vor allem wegen seiner Berge als Geheimtipp unter Touristen. Heute herrscht seit über 40 Jahren Krieg. Hier ein Bild zweier US-Soldaten auf Patrouille.
Bis in die 1970er Jahre hinein galt Afghanistan vor allem wegen seiner Berge als Geheimtipp unter Touristen. Heute herrscht seit über 40 Jahren Krieg. Hier ein Bild zweier US-Soldaten auf Patrouille. Foto: pixabay


Der Verwundete lag danach noch Monate im Koma. Für Graf ein schwerer Schlag. "Eigentlich sollte man ja froh sein, dass einem nichts passiert ist", glaubt Graf. Aber das Gegenteil war der Fall. "Der Gedanke, der immer wieder der kommt, ist, 'warum er und nicht ich?'. Das nimmt einen mit." Graf wurde von den Gefühlen übermannt. Am Ende ging er stationär ins Bundeswehrkrankenhaus in Hamburg, zwei Wochen blieb er dort. Es gab tägliche Gespräche, man gab ihm Zeit die Situation zu verarbeiten. Am Ende überlebte der verwundete Kamerad, allerdings schwer körperlich beeinträchtigt. Graf verfolgt seine Entwicklung bis heute. Sie sind bei Facebook befreundet, es gebe ohnehin Whatsapp-Gruppen, in denen die alten Kameraden weiterhin vernetzt sind. Das helfe allen Beteiligten.

Der Weg zurück ins zivile Leben


Bis 2013 blieb Marco Graf noch bei der Bundeswehr und schied als Hauptfeldwevel aus. In den letzten Dienstjahren holte er seinen Realschulabschluss nach und nutzte die restliche Zeit für Praktika. Er wurde schließlich Wagenmeister bei der Deutschen Bahn und engagiert sich ehrenamtlich im Amateurfussball. Fussball ist die Leidenschaft, die ihn über all die Jahre begleitete. Auch in seiner Dienstzeit blieb er dem Sport immer treu. Heute ist er Vorsitzender des Bezirksligisten FC Heeseberg und trainiert dessen zweite Mannschaft.

Wenn er über seine Dienstzeit nachdenkt, betont er, dass er den Dienst bei der Truppe mochte. "Ich wäre gern Berufssoldat geworden", sagt er zurückblickend, "Aber am Ende habe ich mich für die Familie entschieden. Und das war auch gut so." Er habe sich auch nach dem Einsatz nicht alleingelassen gefühlt. Egal ob Ärzte, Militärseelsorger, der Spieß oder einfach die Kameraden, irgendjemand zum Reden war immer da. Durch den Berufsförderungsdienst der Bundeswehr sei ihm auch die Rückkehr ins zivile Leben leicht gefallen. Die Verbindungen zur Heimat seien ohnehin nie gekappt gewesen. Heute hat er das, was ihn damals belastete überwunden. Auf seine Zeit in der Bundeswehr schaut er positiv zurück. Nach Corona, da ist sich Graf sicher, wird er den ein oder anderen von damals wiedersehen. Die Kameradschaft wird weiter gepflegt.

Im Herbst dieses Jahres endet mit dem Auslauf der Mission Resolute Support das Engagement für die Bundeswehr nach fast genau 20 Jahren der Einsatz in Afghanistan. Zum Höhepunkt des Konflikts verrichteten etwa 5.350 deutsche Soldaten ihren Dienst am Hindukusch, das erste Mal seit dem Zweiten Weltkrieg waren Gefallene und Verwundete aus Gefechten zu beklagen. Nicht nur für Graf war der Einsatz ein großer Einschnitt. Tausende teilen seine Erfahrungen. Wie sich die Lage in Afghanistan danach entwickelt bleibt offen. Für Männer und Frauen wie Marco Graf jedenfalls ist der Krieg in diesem Teil der Welt vorerst Geschichte.


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