Berlin. Alt-Bundespräsident Joachim Gauck hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eine zögerliche Haltung bei Waffenlieferungen an die Ukraine vorgeworfen und sich für die Lieferung von Taurus-Raketen an Kiew ausgesprochen. "Angesichts des zermürbenden Stellungskriegs und der abscheulichen Luftangriffe auf die ukrainische Zivilbevölkerung schaue ich sorgenvoll auf unser Tun und frage mich, ob unsere Unterstützung ausreicht", sagte Gauck der "Bild am Sonntag".
Der frühere Bundespräsident hat sich nach eigenen Angaben mit Militärexperten über die Notwendigkeit von Taurus-Lieferungen ausgetauscht. "Und nach diesen Gesprächen kann ich nicht mehr nachvollziehen, dass wir zögern, diese Waffe und weitere Munition zu liefern." Gauck verwies darauf, dass es "kein völkerrechtliches Verbot" gebe, ein überfallenes Opfer mit Waffen zu unterstützen. "Deshalb dürfen wir das tun. Und wir müssen es tun - mit allem, was uns zur Verfügung steht. Ohne Wenn und Aber. Denn ein russischer Sieg würde mittelfristig auch die Sicherheit weiterer europäischer Staaten bedrohen." Deutliche Kritik übte Gauck an der Haltung von Olaf Scholz: "Der Kanzler muss sich immer wieder einmal fragen, ob er nicht hinter seinem formulierten Anspruch zurückbleibt, alles zu tun, damit Russland nicht zu einem Sieg-Frieden kommt. Irritationen entstehen, wenn durch das Zögern der Regierung nicht nur die Chancen der Ukraine geringer werden, sondern die Bedrohung der freien Welt größer wird." Gauck bekannte, dass er nach der Zeitenwende-Rede des Kanzlers "ganz deutlich gewusst" hätte, wen er wählen würde. Aktuell sei er aber in einer Phase, in der er diese Klarheit nicht mehr habe. Er frage sich als Wähler: "Ist das jetzt noch Zeitenwende-Politik? Oder fallen wir doch zurück in eine Form der von Wunschdenken gesteuerten Wahrnehmung der Wirklichkeit?" Gauck beklagte eine mangelnde Verteidigungsfähigkeit Deutschlands und sprach sich für die Verstärkung der atomaren Abschreckung in Deutschland und Europa aus. "Wir sind nicht ausreichend gerüstet gegen eine wirklich kriegerische Bedrohung, wie sie jetzt von Russland ausgeht", so der Bundespräsident a.D. weiter. Der Alt-Bundespräsident sprach sich für eine Prüfung eines neuen Atomprogramms aus: "Sollte der Fall eintreten, dass die Amerikaner keinen Schutz mehr gewähren und sich die Sicherheitslage auf unserem Kontinent weiter radikal ändert, braucht Europa einen eigenen nuklearen Schirm. Davon bin ich überzeugt und denke, es ist höchste Zeit, darüber zu debattieren und entsprechende Entscheidungen vorzubereiten." Gauck plädierte dafür, "erneut ein System der Verteidigungsbereitschaft und der Abschreckung" zu errichten.
Putin habe "wiederholt militärische Angriffe gewagt, weil er davon ausgeht, dass der Westen nun zu schwach und zu unentschlossen und zu uneinig ist". "Deshalb ist es so wichtig, die militärischen Fähigkeiten Europas auszubauen." Ausdrücklich verteidigt hat Gauck Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD). "Wenn er Vokabeln wie `kriegstüchtigkeit` benutzt, will er einen Weckruf starten: Aufwachen, wir sind nicht mehr in einer Zeit, in der wir von einer Friedensdividende träumen können. Wir befinden uns in einer Zeit, die möglicherweise gefährlicher ist als die Zeit des Kalten Krieges. Damals gab es ein gewisses Maß an Berechenbarkeit, die dadurch entstand, dass die atomare Abschreckung jeder Seite so wirkte, dass der anderen die Lust verging auf eine kriegerische Durchsetzung eigener Interessen."
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