Harz. Getreu dem Nationalpark-Motto „Natur Natur sein lassen" darf sich die Natur in großen Teilen des Nationalparks Harz frei entfalten. Dadurch bietet sich die seltene Gelegenheit, den natürlichen Waldwandel vom ehemaligen Wirtschaftswald hin zum wilden Naturwald zu erleben.
In einigen Bereichen geht dieser Wandel aktuell sehr rasant von statten und die Waldbilder dieser Übergangsphase wirken auf viele Menschen zunächst befremdlich, erklärtDr. Friedhart Knolle vom Nationalpark Harz und berichtet über die aktuelle Situation im Harz.
Einneuer Flyer „Wald im Wandel zur neuen Wildnis" schildert die Hintergründe des Waldwandels und warum tote Bäume nicht das Ende des Waldes, sondern den Beginn der neuen Waldwildnis bedeuten. Das Faltblatt ist in den Nationalpark-Einrichtungen und zahlreichen Infostellen sowie als Download im Internet unter www.nationalpark-harz.de erhältlich.
Der Wald stirbt nicht, er ist im Wandel
Im Nationalpark Harz sind in den letzten Jahren neue Waldbilder zu sehen. Die grauen Silhouetten abgestorbener Fichten ragen in den Himmel oder liegen – teilweise wild übereinander – im Gelände oder an den Straßenrändern.
Dieser Anblick ist für viele Menschen zunächst ungewöhnlich. Doch auch wenn aktuell viele tote Bäume zu sehen sind, ist dieser Wald so lebendig und dynamisch wie selten zuvor. Initiiert durch Stürme und ein durch den Klimawandel begünstigtes kleines Insekt – den Borkenkäfer „Buchdrucker“ – entsteht hier neue Wildnis, artenreich und vielseitig.
"Getreu dem Nationalpark-Motto 'Natur Natur sein lassen' darf sich die Natur in großen Teilen des Nationalparks frei entfalten und wir haben die einmalige Gelegenheit, sie auf ihrem Weg vom ehemaligen Nutzwald zum wilden Naturwald zu beobachten", so Knolle.
Tote Bäume – neues Leben
Weil sie zum Kreislauf von Werden und Vergehen dazugehören, bleiben in großen Teilen des Nationalparks abgestorbene Bäume im Wald. Dieses Totholz bildet eine wichtige Grundlage für die neue Waldwildnis, denn schätzungsweise 20 bis 30 Prozent der im Wald lebenden Arten sind darauf angewiesen.
Totholz ist eine wichtige Nahrungsquelle und Lebensraum für viele Pilze, Insekten und Mikroorganismen. Sie zersetzen das Holz und machen seine Nährstoffe für Pflanzen verfügbar. Viele Totholz-Bewohner sind aktuell gefährdet.
Zwischen den liegen gebliebenen Stämmen findet eine neue Generation von Bäumen Schutz vor hungrigen Wildtieren und kann so besser gedeihen. Je nach Höhenlage können auch verschiedene Laubbäume wieder Fuß fassen. Mehr Platz und Licht bieten zahlreichen weiteren Pflanzen die Möglichkeit, sich anzusiedeln. Diese wiederum ziehen Insekten wie Schmetterlinge, Wildbienen und Käfer an.
Die Sämlinge der Fichte wachsen gern direkt auf morschen Stämmen. Diese dienen auch zahlreichen Amphibien, Reptilien und Säugetieren wie der Wildkatze oder dem Luchs als Unterschlupf.
Stehendes Totholz bietet ebenfalls vielen Tieren Nahrung und Unterkunft. Die Mopsfledermaus, eine von 18 verschiedenen Fledermausarten im Nationalpark Harz, hat ihre Wochenstuben und Schlafquartiere beispielsweise bevorzugt unter abstehender Borke an noch stehenden, abgestorbenen Bäumen. Auf den Freiflächen geht sie auf Jagd nach Mücken oder Nachtfaltern. Auch der Specht hat im Totholz lebende Insekten zum Fressen gern und zimmert seine Höhlen in die Stämme. Diese Baumhöhlen bieten in den darauffolgenden Jahren noch vielen anderen Tieren einen willkommenen Nistplatz oder dienen als Wohn- und Winterquartier, zum Beispiel für den Sperlingskauz – die kleinste Eulenart in Mitteleuropa.
Warum sterben aktuell so viele Fichten?
Alle Wälder, die heute im Nationalpark Harz liegen, sind vom Menschen geprägt. Für den Harzer Bergbau und die Reparationshiebe der Nachkriegszeit wurden große Teile der ursprünglichen Waldflächen abgeholzt. Die Wiederaufforstung erfolgte oft mit schnell wachsenden Fichten, die ursprünglich nur oberhalb von rund 700 Höhenmetern wuchsen.
Stürme, Schnee- und Eisbruch, Luftverschmutzung oder lange Hitze- und Trockenperioden setzen den Fichten zu. Vorgeschädigte, gestresste Bäume sind leichte Beute für den Buchdrucker. Der kleine Käfer ist nach seinem Fraßbild benannt, das an ein aufgeschlagenes Buch erinnert. Er ist der häufigste Fichten-Borkenkäfer im Nationalpark Harz.
Am Duft kann der Käfer den Gesundheitszustand einer Fichte erkennen und frisst sich unter die Rinde geschwächter Bäume. Er und seine Larven kappen damit die Versorgungsleitungen des Baums und bringen ihn zum Absterben. Besonders gern mag der Buchdrucker Fichten, die mindestens 60 Jahre alt sind.
Schon seit rund 5000 Jahren entwickeln sich Borkenkäfer gemeinsam mit den natürlichen Fichtenwäldern im Harz und sind Teil des Ökosystems. Besonders in den menschengeprägten, oft strukturarmen ehemaligen Fichtenforsten können sie sich jedoch nach Vorschädigungen massenhaft vermehren und großflächig die alten Bäume befallen.
Sicherheit und Naturnähe
In großen Teilen des Nationalparks werden Borkenkäfer nicht bekämpft. Sie dürfen der Natur dabei helfen, aus ehemals bewirtschafteten Forsten wieder natürliche, wilde Wälder mit einer Vielfalt an Strukturen entstehen zu lassen. Nur an der Nationalparkgrenze werden Maßnahmen ergriffen, um angrenzende Wirtschaftswälder zu schützen.
Im Rahmen der Verkehrssicherung müssen entlang öffentlicher Verkehrswege, an besonderen touristischen Zielen sowie entlang der Schienen der Harzer Schmalspurbahnen tote oder absterbende Bäume konsequent gefällt werden. Ihr Holz wird dabei jedoch ebenfalls im Wald belassen.
Damit auch stehendes Totholz für Specht, Fledermaus und Co. zur Verfügung steht, werden manche Bäume in unterschiedlichen Höhen abgeschnitten. Besonders an der Brockenstraße kann man das gut sehen.
Der Anblick der verschieden hohen Baumstümpfe erscheint zwar zunächst seltsam – es ist jedoch ein guter Kompromiss zwischen Sicherheit und Naturnähe für eine vielfältige Tier- und Pflanzenwelt.
Wo lässt sich der Wandel zur Waldwildnis erleben?
Wie schnell die natürliche Waldentwicklung nach einem Borkenkäferbefall vonstattengeht, lässt sich in verschiedenen Stadien im Nationalpark Harz gut beobachten.
Entlang der B 4 zwischen Bad Harzburg und Braunlage, rund um Torfhaus, am Oderteich oder beim Aufstieg auf Achtermannshöhe und Brocken lassen sich aktuell sehr unterschiedliche Waldbilder vom monotonen Forst über gerade zusammenbrechende Waldbereiche bis hin zur beginnenden Waldwildnis entdecken.
Weiter fortgeschritten ist die Entwicklung beispielsweise am Quitschenberg, auf dem Bruchberg entlang des Clausthaler Flutgrabens bei Torfhaus oder am Meineberg bei Ilsenburg. Auf lichtliebende krautige Pflanzen folgten hier Birken und Ebereschen, bevor sich je nach Höhenlage Buchen oder wieder Fichten durchsetzen werden. In diesen Bereichen lässt sich schon klar erkennen, dass der vorübergehend scheinbar „tote“ Wald nur ein kurzer Zwischenschritt in der Entwicklung hin zur natürlichen Waldwildnis ist.
Wer mehr über die neue Waldwildnis erfahren möchte, kann außerdem unsere Themenpfade erkunden: Der WaldWandelWeg am Schubenstein zeigt auf 180 m bereits heute den „Urwald von morgen“ mit seiner dynamischen Waldentwicklung. Man erreicht ihn auf einem kurzen Spaziergang oder als Teil einer Rundtour mit Startpunkt am Nationalpark-Besucherzentrum TorfHaus.
Auf dem Borkenkäferpfad bei Ilsenburg erfahren Sie, wie ein Wald neu entsteht und wie sich aus einer vermeintlichen Katastrophe Chancen für die Natur ergeben. Der ca. 3 km lange, teilweise steile Pfad beginnt in der Nähe des Nationalparkhauses im Ilsetal.
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