Mimamori – das Zauberwort, das Japans Senioren schützt


Zwei Nachbarinnen kümmern sich um eine alte Frau in einem japanischen Dorf. Foto: Malte Arnsperger/FOCUS Online
Zwei Nachbarinnen kümmern sich um eine alte Frau in einem japanischen Dorf. Foto: Malte Arnsperger/FOCUS Online | Foto: Malte Arnsperger/FOCUS Online

Die gute Nachricht zuerst: Nirgendwo auf der Welt werden die Menschen so alt wie in Japan. Die schlechte: Alte Menschen sind besonders gefährdet durch Kriminalität, durch Räuber und Betrüger. Was kann man dagegen tun? FOCUS Online-Reporter Malte Arnsperger hat Nanmoku besucht, die älteste Stadt Japans und damit wohl auch die älteste Stadt der Welt. Fast die Hälfte aller Einwohner sind hier älter als 75 Jahre.


von FOCUS-Online-Autor Malte Arnsperger

Die Menschen im Kaiserreich erfreuen sich immer besserer Gesundheit, werden immer älter. Die Lebenserwartung beträgt 84 Jahre, weltweit der Spitzenplatz, in Deutschland liegt sie bei 81. Das dies gerade in einem Land mit immer weniger Kindern und kaum Migration ein ökonomisches Problem darstellt, ist klar. In Japan haben die Behörden aber auch erkannt, dass eine alternde Gesellschaft eine gewaltige Herausforderung für die innere Sicherheit ist. Immer mehr Demenz-Kranke werden vermisst, immer mehr Senioren werden Opfer von Telefonbetrügern. Ein kriminelles Milliardengeschäft, die nationale Polizeiagentur NPA bezeichnet das gegenüber FOCUS Online als„riesiges Problem“.

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Das Epizentrum liegt in Nanmoku, der Senioren-Hauptstadt Japans. Das Durchschnittsalter beträgt hier 70 Jahre, 43 Prozent der Menschen sind über 75, die älteste Einwohnerin ist 111 Jahren alt.

Nanmoku liegt etwa 100 Kilometer nordwestlich von Tokio, idyllisch gelegen in einer Berglandschaft mit Wasserfällen und dichten Wäldern. Die Straßen an diesem Samstagmittag sind menschenleer, es könnte am feinen Regen liegen, der sich über den Ort gelegt hat. Im Restaurant von Atsuko Mizusawa an der Hauptstraße hängen zwei ältere Paare über ihren Schüsseln mit den für diese Gegend typischen schwarzen Nudeln auf Kohlebasis. Zu hören ist nur ihr genüssliches Schlürfen und der Fernseher.

Das Restaurant ist seit 110 Jahren in Familienbesitz. Atsuko Mizusawa, eine freundlich lächelnde Frau mit kurzen Haaren und schwarzer Schürze, weiß um die schwierige Situation ihres Heimatdorfes. Bis vor rund 30 Jahren hat vor allem der Anbau der Teufelszunge (der kleine Verwandte der Titanenwurz) vielen Menschen Arbeit gegeben. Auch dem Bruder von Atsuko Mizusawa. Doch der musste seinen Betrieb in eine größere Stadt mit besserer Infrastruktur verlagern und zog samt Familie weg. „Ein typisches Beispiel für Nanmoku“, sagt seine Schwester.

Keine Jobs heißt aber auch: keine jungen Leute, keine Kinder. Das Resultat: Statt drei Grundschulen gibt es nur noch eine, seit zehn Jahren kein Sportfest mehr. Die meisten Einwohner sind schlicht zu alt.

Strategien für Sicherheit



Die Gemeinde sorgt sich deshalb nicht nur um das Überleben von Nanmoku, weil die Einwohnerzahl seit den 1950er-Jahren von mehr als 10.000 auf jetzt exakt 1911 gesunken ist. Die Behörden müssen sich Strategien ausdenken, wie sie das öffentliche Leben und damit auch die Sicherheit gewährleisten. Dabei geht es weniger um Gewalt oder Drogenhandel. Es geht vielmehr um die speziellen Nöte vieler alleinstehender Senioren, die oftmals ihre Häuser tagelang nicht verlassen. Etwa die Frage: „Wer merkt, wenn ich mich verletzt habe und nicht um Hilfe rufen kann?“

„Wir haben vor rund zehn Jahren angefangen, ein Sicherheitsnetz um diese Bürger zu spannen“, erklärt Gemeindesprecher Taketsune. So hat die Gemeinde für die einsamen Senioren ein mehrschichtiges System installiert. Der eine Teil basiert auf Technik. Jeder alleinlebende Rentner bekommt für 500 Yen im Monat (rund vier Euro), einen Sensor, der eigentlich etwa 24 Euro kostet, aber von der Gemeinde subventioniert wird. Er reagiert auf Bewegungen und Geräusche. Sollte sich der Hausbewohner etwa tagsüber länger als eine vorher eingestellte Zeit nicht bewegen, sollte ein Feuer ausbrechen, werden vorher festgelegte Angehörige alarmiert.

Der Sensor ist aber auch mit dem Telefon verbunden. Anrufer werden, sobald der Rentner abgehoben hat, darüber informiert, dass das Gespräch aufgezeichnet wird. Den Hintergrund erklärt Gemeinde-Mann Taketsune: „Wir werden wellenartig von Telefonbetrügern überfallen. Das hat die Bürger beunruhigt, darauf mussten wir reagieren.“ Die Ansage soll die Betrüger abschrecken.

Über eine neue Welle von Telefonbetrug, vor einem nahenden Taifun oder auch mal über einen Bären in der Gegend werden hilfsbedürftige Senioren durch einen weiteren Baustein der Sicherheitsarchitektur „Made in Nanmoku“ informiert. In jedem Haushalt steht ein von der Gemeinde gestellter Empfänger, über den Polizei und Katastrophenschutz entsprechende Durchsagen machen können.

"Mimamori": Aufeinander aufpassen



Doch neben Technik setzt Nanmoku vor allem auf seine Stärke: Das Bewusstsein seiner Bürger, dass sie einander helfen müssen. Für dieses Konzept gibt es in Japan sogar einen eigenen Ausdruck: „Mimamori“, das sich aus dem Wort „mi“ für beobachten und mamori für „bewachen“ zusammensetzt. Der Gedanke, der dahintersteht, dass nämlich Nachbarn aufeinander aufpassen, respektvoll und distanziert, ohne sich zu beobachten, ist Teil der japanischen Gesellschaft. Aber durch die zunehmende Individualisierung gerät diese Idee vielerorts in Vergessenheit. Nicht so in Nanmoku. „Wir haben vor rund 20 Jahren damit angefangen, dieses System zu institutionalisieren“ erklärt Taketsune. „Jeder Nachbar eines alleinstehenden Rentners wird von uns darüber informiert, dass er neben einer solchen Person lebt. Die Nachbarn sind aufgerufen, die Behörden zu informieren, wenn ihnen etwa auffällt, dass die Post seit Tagen im Briefkasten steckt.“

Das Beispiel von Hatsu Ichikawa aus Nanmoku zeigt, wie entspannt die Senioren damit umgehen. Die 94-Jährige sitzt in ihrem Wohnzimmer, wie es sich für traditionsbewusste Japaner gehört, natürlich auf dem Fußboden vor einer aufwendig bemalten papierbezogenen Trennwand. Ihr Mann ist vor Jahren verstorben, hin und wieder besucht sie ihr Sohn oder die Schwester. Trotzdem macht sich die alte Frau keine Sorgen. „Ich fühle mich sicher“ sagt sie.

Den von der Gemeinde gestellten Empfänger hat die 94-Jährige in all den Jahren noch nicht mal ausgepackt, er liegt unbenutzt unter einem Blumentopf. Sie vertraut lieber ihrer „Mimamori-San“, also ihrer nachbarschaftlichen Aufpasserin. Die lebt im Haus direkt daneben und schaut gerade mal wieder vorbei. „Es ist absolut richtig, dass die Gemeinde auf dieses Konzept baut“, sagt die Nachbarin, die mit 74 Jahren für Nanmoku-Verhältnisse noch eher jung ist. „Ich unterstütze dieses System und es ist für mich keine Belastung, sondern ein Weg, um für uns alle mehr Sicherheit zu erreichen.“

Lob für Koban-Polizisten



Ein zentrales Element für die innere Sicherheit in Japan sind die vielen Polizeiwachen, die über das ganze Land verteilt sind.In der Stadt sind das die rund um die Uhr besetzten „Koban“, auf dem Land sind es die „Chuzaijyo“. Der jeweils dorthin entsandte Polizeibeamte lebt mit seiner Familie in dem stets direkt mit der Wache verbundenen Wohntrakt.

In Nanmoku gibt es zwei dieser Polizeistationen. Die Leute in Nanmoku loben die Arbeit ihrer Polizisten: „Er könnte zwar noch öfter zu Hausbesuchen kommen, aber er ist sehr präsent in Nanmoku“, sagt Restaurant-Besitzerin Atsuko Mizusawa über den Polizisten, der für den Dorfkern zuständig ist. „Seine Frau hat eine tolle Verbindung zur Bevölkerung aufgebaut, vor allem zu den vielen Senioren.“

Sicherheit ist vor allem in einer alternden Gesellschaft eine Gemeinschaftsaufgabe, Nanmoku macht es vor. Gemeindesprecher Taketsune sagt: „Es geht darum, dass wir alle aufeinander aufpassen.


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Was ist das Problem?

Deutschlands Bevölkerung wird immer älter und damit steigt auch die Zahl der Senioren, die Opfer von Kriminalität werden. Waren 2012 noch 5,6 Prozent der Opfer älter als 60 waren es im vergangenen Jahr schon 6,1 Prozent. Auch wenn der Anstieg noch nicht dramatisch ist, fordern Seniorenverbände Maßnahmen. „In einer älter werdenden Gesellschaft ist die Stärkung der sozialen Teilhabe von Seniorinnen und Senioren eine wichtige Aufgabe, Sicherheit im Sinne eines Schutzes vor Kriminalität ist dabei ein Aspekt“, sagt etwa die Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (Bagso).

Was macht Japan?

Siehe Artikel

Was kann Deutschland davon lernen?

In Deutschland gibt es ähnliche Modelle wie in Namoku. So weist die Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen (Bagso) daraufhin, dass Städte wie Mayen in der Eifel freiwillige Telefonketten eingeführt hätten, in denen Senioren sich reihum gegenseitig täglich anrufen, um zu hören, ob alles in Ordnung ist. Ein weiteres Beispiel sei eine Kooperation des Seniorenbeirats Hannover mit der Polizei, bei dem Mitglieder des Beirats zu ehrenamtlichen Sicherheitsberatern ausgebildet würden. Die Bagso meint: „Je älter die Menschen werden, desto wichtiger ist dafür ihr direktes Wohnumfeld.“


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