Wandergesellin auf Walz - Ein seltener Anblick an der Autobahn

"So etwas sieht man nicht alle Tage". Mitten auf dem Rastplatz und weit weg von Zuhause stand eine Frau in traditioneller Handwerkerkluft.

von und Rudolf Karliczek


Ines kommt ursprünglich aus Berlin. Am Samstag verschlug es sie in unsere Region – allerdings nur auf der Durchreise.
Ines kommt ursprünglich aus Berlin. Am Samstag verschlug es sie in unsere Region – allerdings nur auf der Durchreise. | Foto: sz-pa/RK

Salzgitter. „So etwas sieht man nicht alle Tage“, dachte sich unser Fotoredakteur am Samstagnachmittag, als er an der Tankstelle auf dem Rastplatz Salzgitterhüttenblick von einer Wandergesellin angesprochen wurde. Er war gerade mit seinem Auto auf der A39 unterwegs und hatte dort einen Zwischenstopp eingelegt, als die Frau in traditioneller Handwerkerkluft auf ihn zukam und fragte, ob er in Richtung Göttingen fahre. Leider musste er sie enttäuschen – sein Ziel war nur Lebenstedt. Doch die kurze Begegnung führte zu einem Kaffee im Raststättencafé, wo die Gesellin, die sich als Ines vorstellte, von ihrer ungewöhnlichen Reise berichtete.



1,5 Jahre auf der Walz: Ines, eine Tischlerin aus Berlin, ist seit eineinhalb Jahren auf Wanderschaft – oder, wie es traditionell heißt, auf der Walz. Ihr Handwerk führt sie quer durch Deutschland, von den Küsten Rügens bis ins Saarland, von Görlitz bis Freiburg. Eine Regel der Walz verlangt, dass die Gesellinnen und Gesellen während ihrer Reise mindestens 50 Kilometer von ihrem Heimatort entfernt bleiben, was sie konsequent einhält.

Was Ines in dieser Zeit alles erlebt hat? Sie lacht und meint, dass es einfach zu viel sei, um es in einem Satz zu fassen. In den letzten Monaten hat sie unter anderem in einem Ökodorf in Sachsen-Anhalt einen Balkon für eine Zimmerei gebaut, auf einem Schweinebauernhof mitgearbeitet und sogar Wagenbau im hohen Norden betrieben.

Nächstes Ziel: Holzminden


Ihr nächstes Ziel liegt bei Göttingen, genauer gesagt in der Nähe von Holzminden, wo sie an der Abschlussfeier einer Freundin teilnehmen wird, die ebenfalls auf der Walz war. Solche Feierlichkeiten und die damit verbundenen Rituale haben eine lange Tradition unter den reisenden Handwerkern. Danach geht es für Ines wieder weiter.

Warum auf die Walz gehen?


Auf die Frage, warum sie sich auf Wanderschaft begeben hat, antwortet sie: „Es geht darum, sich handwerklich weiterzubilden, andere Orte und Lebensrealitäten kennenzulernen, neue Wohnideen zu entdecken und sich mit sich selbst auseinanderzusetzen.“ Die Walz sei nicht nur eine berufliche Herausforderung, sondern auch eine persönliche Reise.

Schöne Momente und schwierige Zeiten


Als wir sie nach dem schönsten Erlebnis ihrer Reise fragen, fällt es ihr schwer, sich zu entscheiden. „Eigentlich passiert jeden Tag etwas Schönes,“ sagt sie lächelnd. Besonders in Erinnerung geblieben ist ihr jedoch ein Erlebnis auf einem Bauernhof in Sachsen, wo sie mit einem befreundeten Zimmerer vorbeikam. Ursprünglich wollten sie nur eine Nacht dort verbringen, aber die Gastfreundschaft der Hausherrin war so groß, dass sie fast zwei Monate blieben. „Wir wollten eigentlich nur im Freilichtmuseum für den Denkmalschutz arbeiten, aber es kam ganz anders“, erzählt sie. Doch länger als drei Monaten dürfen sie auf der Wanderschaft nicht an einem Ort bleiben. Es gibt dafür sogar eine Redewendung, so die Wandergesellin. Die Redewendung besagt: "Wenn der Hund nicht mehr bellt und die Postbotin grüßt, dann ist es an der Zeit, weiterzuziehen."

Doch es gibt auch schwierige Momente. Die Kälte und Dunkelheit im Januar und Februar haben ihr zu schaffen gemacht. Einmal strandete sie nachts in einem Keller in Osnabrück, wo sie nach tagelangen Regenfällen und Minusgraden Zuflucht suchte. „Das war schon hart“, gibt sie zu. „Kälte, Dunkelheit und Einsamkeit sind in solchen Momenten wirklich herausfordernd.“

Ein Leben ohne Geld?


Auf die Frage, wie man sich auf Wanderschaft über Wasser hält, antwortet Ines überraschend: „Eigentlich muss man gar nicht so viel Geld verdienen.“ Die reisenden Gesellen dürfen kein Geld für Unterkunft und Transport ausgeben, stattdessen bekommen sie oft Schlafplätze von Menschen angeboten, die sie per Anhalter mitnehmen. Ansonsten fragen sie bei Sportvereinen, Feuerwehren oder Kirchengemeinden nach. Besonders die evangelische Kirche sei sehr offen, was ihre Gemeindehäuser angeht. „Oft schlafe ich auch auf Bauernhöfen oder habe meinen Schlafsack dabei.“

Die Kosten für die Krankenkasse, Kleidung und Essen sind überschaubar. „Ich habe letzte Woche gearbeitet, das reicht jetzt für vier Wochen“, sagt sie. Immer wieder gibt es auch Mahlzeiten dort, wo sie arbeitet, aber im Notfall könne sie sich auch einfach Essen kaufen. „Es ist jedes Mal anders.“

Analog unterwegs


Besonders beeindruckend ist, dass Ines völlig auf moderne Technik verzichtet. Kontakt zu ihrer Familie hält sie ausschließlich per E-Mail oder Postkarte. Ein Handy ist auf der Walz nicht erlaubt. „Wir reisen ganz analog mit Landkarte, das macht auf jeden Fall Spaß“, sagt sie mit einem Schmunzeln.

Ines bereut ihre Entscheidung, auf die Walz zu gehen, kein bisschen. Auch wenn es manchmal schwierige Tage gibt, überwiegen die positiven Erlebnisse. „Mindestens noch 1,5 Jahre“ will sie auf Wanderschaft bleiben. Nach der Feier in Göttingen geht es für sie zurück zu einem Bauernhof in Sachsen.

Zum Schluss wünscht unser Redakteur der fleißigen Tischlerin, wie es für Wandergesellen üblich ist, eine „fixe Tippelei“, und man darf gespannt sein, welche Geschichten sie in den kommenden Monaten noch erleben wird.


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