[image=5e1764bd785549ede64ccc97]Das Problem des Fachkräftemangels wird auch die Land- und Agrarwirtschaft deutlich zu spüren bekommen. Das wurde auf dem Arbeitnehmertag der Landwirtschaftskammer Niedersachsen deutlich, der heute am Rande der Agritechnica im Convention Center auf dem Messegelände in Hannover stattfand. Unternehmer, Arbeitnehmer und Wissenschaftler sowie Vertreter von Behörden und Gewerkschaften waren sich einig, dass im Wettbewerb um gute Nachwuchskräfte die Kommunikation intensiviert werden muss, um Vorurteile gegenüber grünen Berufen zu entkräften.
In einem anschließenden Pressegespräch erläuterte Heinrich Grupe, Vizepräsident der Landwirtschaftskammer Niedersachsen, die Hintergründe. Stetig wachsende Betriebe seien immer stärker auf familienfremde Lohnarbeitskräfte angewiesen. Fachkräfte und Spezialisten würden händeringend gesucht. „In diesem Jahr konnten nicht alle Stellen in der Landwirtschaft und im Gartenbau besetzt werden“, schilderte Grupe eine Situation, die sich noch weiter zuspitzen wird. „Und das, obwohl wir uns über stabile bis leicht ansteigende Ausbildungszahlen freuen können.“
In dieser Phase sei es wichtig, über Möglichkeiten und Chancen der Ausbildung und Arbeitsplätze im grünen Bereich umfassend zu informieren. „Viele junge Männer und Frauen wissen kaum etwas über die vielen hochinteressanten Aufgabenfelder in der Agrar- und Ernährungswirtschaft“, so Grupe. Um das Wissen darüber gezielt zu fördern, sei in Niedersachsen eine „Fachkräfteinitiative“ von mehreren Akteuren im ländlichen Raum ins Leben gerufen worden. Gemeinsame Aktionen richteten sich an Menschen in der Berufsfindungsphase, in der beruflichen Umorientierung und an Multiplikatoren.
Wie notwendig das ist, zeigt eine Statistik des Bundesinstituts für Berufsbildung, aus der Albrecht Bußmeyer, Vorsitzender des Arbeitgeberverbandes Agrar, Genossenschaften, Ernährung Niedersachsen e.V. (AGE), zitierte. Unter den Top 50 der Ausbildungsberufe rangiert bei den Männern der Gärtner als beliebtester grüner Beruf erst auf Platz 21. Der Beruf des Landwirts folgt auf Rang 25. Bei den Frauen steht der Beruf der Gärtnerin erst auf Platz 38. Insgesamt läge der Anteil weiblicher Auszubildenden in den grünen Berufen bei rund 23 Prozent. „Das ist zu wenig, hier liegt für uns ein großes Potenzial“, sagte Bußmeyer.
Um die Attraktivität grüner Berufe zu steigern, sei die Vergütung insbesondere für Auszubildende angehoben worden. Dazu habe der AGE mit der Gewerkschaft IG BAU einen Tarifvertrag mit deutlich besseren Löhnen vereinbart. „Die können sich mit anderen Branchen messen lassen“, sagte Bußmeyer. Zusätzlich würden Prämien für besonders gute Abschlüsse gezahlt.
Insgesamt werde das Lohnniveau durch die Verknappung qualifizierter Mitarbeiter ansteigen, prognostizierte der AGE-Vorsitzende. Das werde die Unternehmen weiter unter wirtschaftlichen Druck setzen und den Strukturwandel zusätzlich beschleunigen. Bußmeyer warnte in diesem Zusammenhang vor Mindestlöhnen, wie sie die Politik zurzeit diskutiert. Die seien, beispielsweise für Saisonarbeitskräfte, „absolut nicht marktfähig“.
Professor Dr. Oliver Mußhoff, Georg-August-Universität Göttingen, berichtete von einer in diesem Sommer durchgeführten Online-Befragung, bei der 638 Personen aus dem landwirtschaftlichen und nichtlandwirtschaftlichen Bereich zu ihrer Wahrnehmung grüner Berufe befragt wurden. „Beschäftigte im außerlandwirtschaftlichen Bereich schätzen die grünen Berufe zu negativ ein“, resümierte der Wissenschaftler. Vorteile würden unterbewertet, Nachteile dagegen überbewertet. Fehleinschätzungen bestünden zum Beispiel bezüglich der Möglichkeiten der flexiblen Arbeitszeitgestaltung, aber auch im Hinblick auf die Chancen, die sich mit einer agrarbezogenen Ausbildung auf dem Arbeitsmarkt ergeben.
Ganz anders sehen das Beschäftigte in der Landwirtschaft. Sie sind aufgrund nicht-ökonomischer Vorteile ihres Arbeitsplatzes deutlich zufriedener als es Arbeitnehmer außerhalb der Landwirtschaft sind. Positiv bewertet werden zum Beispiel das häufig selbstständige Arbeiten und die abwechslungsreichen Tätigkeiten. Wichtig sei zudem, dass zumindest teilweise in der Natur gearbeitet und dabei moderne Technik eingesetzt wird. Zu den Nachteilen zählten zum Beispiel die höhere Arbeitszeit und die stärkere körperliche Belastung.
Mußhoff nannte drei Möglichkeiten, um grüne Berufe für junge Leute attraktiver zu machen: ein höheres Gehalt, bessere Rahmenbedingungen sowie eine intensive Aufklärungsarbeit. Es gelte, den Vorurteilen in der nicht landwirtschaftlichen Bevölkerung mit guten Argumenten zu begegnen. „So sehen wir zum Beispiel, dass die in der Landwirtschaft Tätigen zufriedener mit ihrer Tätigkeit sind als Berufstätige in anderen Bereichen“, so der Wissenschaftler. Die nicht-materiellen, aber nutzenstiftenden Charakteristika der landwirtschaftlichen Tätigkeit als solche sind so hoch, dass die außerlandwirtschaftliche Tätigkeit erst ab einem um 800 Euro höheren Einkommen als gleichwertig mit der landwirtschaftlichen Tätigkeit wahrgenommen wird.
Eine sehr zufriedene Arbeitnehmerin ist Carolin Beering aus Melle, die als Herdenmanagerin auf einem Milchviehbetrieb mit 500 Kühen in Bremervörde arbeitet. Die ausgebildete Landwirtin berichtete von ihrem „modernen und sicheren Arbeitsplatz mit neuester Technik, geregelten Arbeits- und Urlaubszeiten, angemessener Entlohnung und der Möglichkeit zur persönlichen Weiterentwicklung“. Auch ohne eigenen Betrieb könnten Arbeitnehmer innerhalb der Landwirtschaft die eigene Existenz sichern und Karriere machen. Wachsende Betriebe suchten ständig gut ausgebildete Fachkräfte, wobei sich beide Seiten „eine langfristige Verbindung“ wünschten.
Das typische „Gummistiefelklischee“ und die „Zeit der Knechte und Mägde“ sind nach Ansicht der 28-Jährigen längst passé. Um heute einen landwirtschaftlichen Betrieb erfolgreich leiten zu können, seien unternehmerisches Geschick, Fachwissen, eine große Portion Menschenkenntnis und soziale Kompetenz notwendig. Ob es sich bei dem Betrieb um den eigenen oder den des Arbeitgebers handele, spiele dabei kaum eine Rolle.
Der Arbeitnehmertag der Landwirtschaftskammer Niedersachsen fand dieses Jahr zum fünften Mal statt. Er trug das Thema „Wettbewerbsfähigkeit der grünen Berufe im Vergleich zu Handwerk und Industrie“. Die rund 1.000 Besucher, überwiegend Arbeitnehmer, kamen aus dem ganzen Bundesgebiet. Schirmherr der Veranstaltung war Niedersachsens Ministerpräsident David McAllister.
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