Wolfenbüttel. Er nennt sich selbst „Der Erinnerer“, wird von vielen als Querkopf wahrgenommen, oft angefeindet und manchmal auch bewundert. Jürgen Kumlehn. Für WolfenbüttelHeute.de öffnet er sein unfassbar umfangreiches Archiv.
In jedem Winkel seines Kellers hat er Akten, Bücher und Zeitungsartikel untergebracht, die zwar thematisch geordnet sind, aber kein wirkliches System haben. Es sind tausende. Die Regale sind vollgestopft mit Büchern, an den Wänden hängen Bilder von jüdischen Familien, in den Schränken sind Mappen, Akten und Briefe. Es breitet sich sogar bis in die erste Etage des Hauses aus. Denn auch im Arbeitszimmer und auf dem Flur stehen und hängen die Zeugen seiner Sammelleidenschaft. „Manchmal brauche ich selber Tage, um bestimmte Sachen zu finden“, gibt er lachend zu. Seine Frau Jane hat sich im Laufe der Jahre mit der Sammelleidenschaft ihres Mannes arrangiertund versucht hier und da ein wenig Platz für sich zu erhaschen. Und so nimmt Kumlehn gerne in Kauf, dass neben den Büchern auch einige Einmachgläser ihren Platz gefunden haben.
Man kann von diesem Mann, der sich selber den Namen „Der Erinnerer“ verpasst hat, ja vieles sagen – unbequem, störrisch, besserwisserisch und provokant – doch man muss ihm auch zugestehen, dass er dort, in den „Katakomben“ seines Hauses, einen unfassbaren Wert an jüdischer Geschichte aufbewahrt. Manchmal auch Recht hat und weiß, von was er spricht. Denn er sammelt all diese geschichtlichen Zeugnisse nicht nur, er lebt mit ihnen und für sie. Und das seit über 50 Jahren schon.
Der selbst ernannte Erinnerer Jürgen Kumlehn. Foto: Anke Donner)
„Ich habe mich schon immer für den Nationalsozialismus interessiert. Ab den 1960er-Jahren habe ich mich dann ganz intensiv mit dem Thema beschäftigt. Dann habe ich das Buch „Die Fahne der Witwe Grasbach" von Werner Ilberg gelesen. Das war der Auslöser. Von da an ließ mich das Thema einfach nicht mehr los und ich begann mit meiner Recherche über jüdische Familien in Wolfenbüttel. Aus dieser Recherche entstand 2009, nach 15 Jahren, mein Buch „Jüdische Familien in Wolfenbüttel - Spuren und Schicksale“. Ich konnte während meiner Recherche mit mehr als 70 jüdischen Familien in der ganzen Welt Kontakt aufnehmen. Zum Teil besteht der Kontakt noch heute“, so Kumlehn weiter.
Das Archiv soll später einmal Schülern zugänglich sein. Foto: Anke Donner)
Unterstützt wurde er bei der Veröffentlichung seines Buches von der Stadt Wolfenbüttel. „Der Bürgermeister und ich waren ganz bestimmt nicht immer einer Meinung und sind gewiss oft aneinander geraten. Doch er hat mich immer unterstützt. Insbesondere was die Verlegung der Stolpersteine in Wolfenbüttel angeht. Das freut mich ganz besonders und ich bin ihm dafür sehr dankbar“, sagt Kumlehn.
"Ich habe viele Stunden in Archiven und Bibliotheken verbracht. Manchmal völlig sinnlos. Manchmal habe ich aber auch ganz wundervolle Sachen entdeckt. Ich hoffe, ich habe noch viele Jahre Zeit, mich durch das Staatsarchiv zu wühlen."
Der Traum von der Samson-Schule
"Ich habe mich in der Vergangenheit oft gefragt, was mit meinem Archiv passiert, wenn ich einmal nicht mehr bin. Natürlich möchte ich noch einige Jahre leben, aber der Gedanke macht sich unweigerlich breit. Besonders als ich vor einiger Zeit eine Recherche über Otto Bücher machte und erfuhr, dass sein Archiv nach dessen Tod auf dem Müll gelandet ist. Es hatte einfach niemand Verwendung für all diese Dinge und sie sind in einem Container gelandet. Ich dachte damals ‚Mein Gott, wenn Du mal stirbst, dann kommt auch ein Container‘. Ich würde mich im Grabe umdrehen, das können Sie mir glauben“, so der Erinnerer.
„Es wäre großartig, wenn in der Samson-Schule ein Gedenkraum zur jüdischen Geschichte eingerichtet werden könnte. Ein Raum, in dem die Geschichte dieser Schule dargestellt wird. Es wäre traumhaft, wenn mein Archiv dort untergebracht werden könnte. Dann könnten Schüler jederzeit Zugriff zu meinen Recherchen, Büchern und Akten bekommen, ohne bürokratische Hürden zu überwinden und ohne erhobenen Zeigefinger, der zur Vorsicht mahnt. Es könnte einfach eine Forschungsstätte für Schüler werden, die Interesse an dem Thema haben“, erklärt er.
Jürgen Kumlehn vor einem Bild einer jüdischen Familie. Foto: Anke Donner)
Ein Leben lang habe er an diesem Archiv gearbeitet, viele Stunden in Bibliotheken und im Staatsarchiv verbracht und dabei oft festgestellt, dass Dokumente zwar da sind, aber ungern hervorgeholt und verliehen werden. „Wissen Sie, Geschichte soll doch insbesondere für junge Menschen greifbar sein. Sie sollen sich nicht in verstaubten Archiven herumdrücken, sondern nach Herzenslust lesen und erleben können. Und wenn ihnen eine Akte oder ein Buch gefällt, dann sollen sie es einfach nehmen und ausleihen können“.
Kein Historiker
Jürgen Kumlehn ist gelernter Elektriker und kein Historiker, das möchte er noch einmal klar stellen. “Ich mag es eigentlich nicht, wenn mich die Menschen als Historiker bezeichnen. Das bin ich nämlich nicht. Also hab ich mich gefragt, was ich bin und sein möchte. Ich will einfach nur erinnern. Mehr nicht. Deshalb habe ich mir den Namen „Der Erinnerer" für mich ausgesucht.“
Mit seiner Kritik Historikern und anderen Fachleuten gegenüber eckt er an. Seine Arbeiten und Recherchen werden in Frage gestellt und seine Passion belächelt. Doch ein Jürgen Kumlehn lässt sich so schnell nicht ins Bockshorn jagen. „Oft werde ich von Kritikern und Gegnern ausgebremst und daran gehindert, meine Recherche zu betreiben. Aber so einfach lasse ich mich nicht entmutigen. Ich weiß, dass ich Fehler mache und denke, ich bin dann auch einsichtig. Aber ich weiß auch, dass ich oft im Recht bin. Mit schlechter Kritik über mich und meine Arbeit kann ich gut umgehen. Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, sie lässt mich kalt. Denn ich weiß, was ich weiß und meine Aussagen haben Hand und Fuß. Oft höre ich 'Kumlehn, der Rechthaber'. Aber meist habe ich einfach auch recht. Ich lasse mich aber auch eines Besseren belehren, wenn ich falsch liege.", verkündet er lachend.
mehr News aus Wolfenbüttel