Leserbrief: Vom friedlichen Einwohner zum Wutbürger


| Foto: Max Förster

Wolfenbüttel. Anlässlich der aktuellen Gespräche und Entscheidungen um Bauvorhaben in der Lessingstadt, erreichte uns folgender Leserbrief von Dr. Jürgen Kahmann, den wir an dieser Stelle unkommentiert und ungekürzt veröffentlichen.


Schon einige Male hatte ich den Gedanken, mich zu bestimmten Themen der Stadt Wolfenbüttel per Leserbrief zu äußern, ohne es jemals getan zu haben. Planung , Umsetzung und Berichterstattung zu aktuellen Bauvorhaben in der Stadt Wolfenbüttel sind jetzt dazu angetan, aus einem friedlichen Einwohner einen „Wutbüger“ zu machen:

1. Der Kornmarkt ist als Ganzes eines der bedeutendsten Baudenkmäler der Stadt; seine Umgestaltung hätte besonderer Sorgfalt bedurft. Ich kritisiere dabei nicht die Entfernung großer Bäume, die zwar eigentlich schade ist, durch die aber ein Blick auf Marienkirche und die Häuserzeile im Norden wieder freigeworden ist, der lange verstellt war. Völlig unakzeptabel ist aber die Umgestaltung des westlichen Teils. Geschmacklose und funktional völlig unzureichende Betonovale mit lächerlichen Sitzgelegenheiten, kombiniert mit betonierten Flächen, die an Autobahnen aus unseliger Zeit erinnern, verschandeln eine der eigentlich schönsten Blickachsen der Stadt. Als in den Sechzigern das Gebäude der NordLB entstand, entsprach das vielleicht dem Zeitgeist und man wußte es möglicherweise nicht besser; aber heutzutage? Unfaßbar.

2. Als die Welger-Villa am Herzogtor der Stadt übereignet wurde, geschah das meines Wissens nach zweckgebunden, und es entstand eine Kindertagesstätte, die jetzt weichen muß, was an sich schon fragwürdig genug erscheint. Und so sehr ich das Argument von zusätzlichen Arbeitsplätzen für die Stadt würdige (die allerdings anderswo entfallen): warum muß man denn die Volksbank auch noch von der Altstadtsatzung befreien? Jedem Hausbesitzer in der Altstadt wird bis zum Fenstergriff vorgeschrieben, was er darf oder nicht darf; und für so ein großes Bauvorhaben am Herzogtor als Teil der von Peter Joseph Krahe Anfang des 19. Jahrhunderts umgestalteten Wallanlagen werden Glaskuben zugelassen? Wäre es denn wirklich unzumutbar gewesen, dort ein wenn schon nicht dem Renaissance-Fachwerk so doch wenigstens dem Klassizismus nachempfundenes Gebäudeensemble zu schaffen, das sich in die Umgebung einfügt? Ich verstehe es nicht.

3. Als das Baugebiet an der Salzdahlumer Straße entstand, hielt ich das zunächst für ein sehr interessantes Projekt. Schon der Bebauungsplan weckte Zweifel, und das heute zu besichtigende Ergebnis zeigt deutlich, daß hier die Chance vertan wurde, ein städtebauliches Schmuckstück zu schaffen. Wer in der Dämmerung von der Nordseite der Salzdahlumer Straße nach Süden schaut, sieht eine ziemlich unsortierte Ansammlung von Wohn- und Nutzgebäuden, beherrscht von einer aufdringlichen überdimensionalen Leuchtschrift. Die in unmittelbarer Nähe entstandenen Lebensmittelmärkte wirken im Vergleich dazu geradezu klassisch dezent.

4. Am 15. 9. berichtet die Wolfenbütteler Zeitung, der Schloßplatz solle doch neu gestaltet werden. Wenn man schon bisher Zweifel an der Notwendigkeit hatte, dann werden diese verstärkt durch die zitierten Argumente unserer gewählten Repräsentanten. Da wird nicht begründet, weshalb der Schloßplatz umgestaltet werden muß, sondern argumentiert, es habe einen teuren Wettbewerb mit einem Sieger gegeben, auch eine Ministerin in Hannover habe keine Einwände gehabt, und deshalb müsse man das jetzt umsetzen. Was ist das denn für eine Argumentation? Nur, weil man schon Geld ausgeben hat, darf man über die Sinnfälligkeit dieser teuren Maßnahme nicht mehr nachdenken, sondern muß dem schlechten Geld noch gutes hinterherwerfen? Glaubt denn ernsthaft irgend jemand, wenn die Straße über den Schloßplatz nicht mehr schräg verliefe, sondern rechtwinklig, würde die Stadt dadurch auch nur einen Deut attraktiver? Und dafür sollen aus unseren Steuergeldern 5 Mio. € ausgegeben werden? Haben wir denn in Wolfenbüttel keine dringlicheren Probleme? Ich hätte da eine Idee.

5. Am östlichen Ende der Fußgängerzone verfallen die ehemaligen Bähr-Gebäude. Wie wäre es denn, wenn die Stadt sie mit dem o.a. Geld kaufen und für einen Investor attraktiv machen würde, damit auch dort wieder geschäftliches Leben als Antipode zum ehemaligen Hertie-Gebäudeentstünde? Das Geld für geplante Umgestaltung des Schloßplatzes wäre hier sicherlich besser angelegt.

Ich kann die Repräsentanten der Stadtverwaltung und des Rates nur bitten, sich möglichst zu befreien von realen und eingebildeten Zwängen und sich mit Herz und gesundem Menschenverstand zu fragen, ob die aktuellen Entwicklungen wirklich zum Besten der Stadt sind oder ob da nicht bei gegeben Mitteln mehr zu erreichen wäre. Politikverdrossenheit entsteht nicht nur aus der Bundespolitik, sondern ganz besonders auch vor Ort.



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