Wolfenbüttel. Jahrelang hat Deutschland einfach nur an die eigene Sicherheit geglaubt, statt in sie zu investieren, sagt Verteidigungsminister Boris Pistorius. Jetzt hofft er, dass die Zeit reicht, um erhebliche Defizite bei der Landesverteidigung zu beseitigen. Wenn morgen der Ernstfall eintreten würde, hätte Deutschland offenbar schon verloren.
Der Bundesminister der Verteidigung war auf Einladung der SPD-Bundestagsabgeordneten Dunja Kreiser am Dienstagabend nach Wolfenbüttel gekommen. Ein kleiner Coup, der da gerade in diesen schwierigen Zeiten gelandet wurde. Vor rund 500 Besuchern sprach Boris Pistorius im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Wolfenbütteler Begegnungen" in der Lindenhalle zum Thema "Den Frieden sichern" und stellte sich dabei auch der Diskussion.
"Bereite den Krieg vor, wenn du Frieden willst"
Jedem im Saal dürfte an diesem Abend noch einmal bewusst geworden sein, dass Deutschland im Falle eines Angriffs derzeit nicht in der Lage wäre, das eigene Land zu verteidigen. Zu wenige Soldaten, eine marode Infrastruktur und mangelhafte Ausstattung. "Das ist einfach das Ergebnis von Nicht-Investitionen in Zeiten von Wohlstand und niedrigen Zinsen", kommentierte Pistorius und stellte klar, dass man eine Änderung dieses Zustandes nicht durch einfache Umschichtungen im Haushalt erreichen könne, sondern jetzt "out of the box"-Denken angebracht sei.
Über 500 Zuschauer aus dem Braunschweiger Land wollten den Verteidigungsminister in Wolfenbüttel sehen und hören. Foto: Matthias Kettling
Putins Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022 sei auch heute immer noch genauso verbrecherisch und maximal brutal wie an seinem ersten Tag. "Er führt uns jeden Tag vor Augen, wie schnell auch unser Frieden und eben auch unsere Freiheit damit attackiert oder im schlimmsten Fall zertrümmert werden könnte", so Pistorius. Russland habe heute bereits 1,3 Millionen Soldaten, Tendenz steigend. "Putin schafft damit die personellen Voraussetzungen, die es ihm ermöglichen würden - um es vorsichtig zu formulieren - einen NATO-Staat anzugreifen", warnt der Verteidigungsminister.
Deutschland müsse auf militärische Abschreckung und Kriegstüchtigkeit setzen. Zwei hässliche Wörter, wie Pistorius findet. Doch man müsse sich vor Augen führen, wie entscheidend es sei, glaubhaft abschrecken zu können. Jedem Aggressor müsse klar sein, dass der Preis für einen Angriff so hoch und nicht kalkulierbar ist, dass er im Zweifel davon Abstand nimmt. "Bereite den Krieg vor, wenn du Frieden willst", zitierte Pistorius von den Römern.
"Wir brauchen eine Bundeswehr, die so aufgestellt und ausgestattet ist, dass sie uns gemeinsam - und darum geht es immer und immer wieder - mit unseren Alliierten in einem Krieg verteidigen kann. Idealerweise aber durch die Abschreckungsfähigkeit verhindert, dass irgendjemand auf die Idee kommt, uns anzugreifen", so der Verteidigungsminister. Ihm wäre am liebsten, dass niemals ein deutscher Soldat oder eine deutsche Soldatin an irgendeine Front gehen muss, weil durch Deutschlands militärische Stärke und Entschlossenheit verhindert wurde, dass es überhaupt zu einer militärischen Auseinandersetzung kommt.
Wichtige Daten fehlen - Deutschland kann nicht mobilisieren
Deutschland investiert in den Wiederaufbau seiner Sicherheit. Bis Ende des Jahres seien 85 Prozent des Sondervermögens verausgabt. Die Aufträge seien erteilt und das Material im Zulauf. "Leider nicht so wie beim Online-Versandhändler. Heute Klick, morgen auf dem Hof! Panzer, Fregatten, U-Boote und Munition brauchen Zeit, bis sie produziert sind. Aber es geht voran."
Doch neben allen materiellen Dingen braucht es eben auch Menschen, die bereit sind, dieses Land notfalls mit ihrem Leben oder ihrer Gesundheit zu verteidigen. Stand heute gebe es dafür nicht annähernd ausreichend Soldaten und Soldatinnen. Und zusätzliche Soldaten, Reservisten und freiwillige Rekruten könnte der Verteidigungsminister erst gar nicht mobilisieren, weil ihm schlichtweg die Daten hierfür fehlen. Seit der Aussetzung des Wehrdienstes im Jahr 2011 gibt es in Deutschland keine Wehrerfassung mehr. Auch die gesamte Wehrüberwachung und die Betreuung der Reservisten wurden gleich mit abgeschafft, ebenso wie die Ausbildungskapazitäten. Über hunderte Kasernen wurden geschlossen, viele Ausbilder gibt es nicht mehr. Ebenso wenig, wie es Material zur Ausbildung gebe.
All das muss jetzt neu aufgebaut werden. Doch das wird Jahre dauern. "Ich habe Platz für 5.000 zusätzliche junge Männer und Frauen, die, wenn sie wollen, eine Wehrdienst-Ausbildung machen können, um dann anschließend in die Reserve zu gehen", sagt der Minister. Eine Zahl, die über die Jahre steigen könne.
Haben wir Zeit uns vorzubereiten?
Haben wir diese Zeit? Das wollte Armin Maus, Moderator des Abends und Geschäftsführer der Autostadt in Wolfsburg, vom Verteidigungsminister wissen. "Wir müssen alles tun, so schnell wie es geht und hoffen, dass die Zeit reicht", lautete Pistorius Antwort. Er fügte hinzu: "Ich weiß nicht, wie schnell wir das haben, was andere haben könnten oder was wir haben müssen. Entscheidend ist, dass wir nachhaltig und verlässlich den Aufbau der Streitkräfte finanzieren und ich vermisse bisweilen in den Debatten in den letzten Monaten diese klaren Willen."
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