Folgend die Rede von Innenminister Uwe Schünemann zur Großen Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Castortransport im Original-Wortlaut:
“Sehr geehrte Damen und Herren,
Castor – ein besonderer und jedes Mal anderer Einsatz
Basierend auf einer völkerrechtlichen Verpflichtung zur Rücknahme von hochradioaktiven Materialien finden seit Mitte der 90er Jahre Transporte mit hochradioaktivem Abfall nach Gorleben statt. Von Beginn an mussten diese so genannten Castortransporte mit erheblichem Aufwand polizeilich gesichert werden. Mittlerweile hat die Polizei dabei umfangreiche und vielschichtige Erfahrungen sammeln können. Wer allerdings glaubt, ein polizeilicher Castoreinsatz wäre deshalb heute polizeiliche Routine, der irrt sich gewaltig, denn: Jeder Castoreinsatz ist anders!
Die Einsätze werden in erster Linie bestimmt durch das jeweils zu mobilisierende Protestpotenzial gegen die Transporte und das teilweise unvorhersehbare Störerverhalten. In Verbindung mit der Größe und strukturellen Eigenart des Einsatzraumes sowie der mehrtägigen Dauer des Transportes führt dieses zu jeweils großen Kräfte- und Logistikbedarfen.
Ich bin davon überzeugt, dass die Planung und Durchführung eines Castoreinsatzes nach wie vor eine der schwierigsten und verantwortungsvollsten Aufgaben für die deutschen Polizeien ist. Und dieser Herausforderung stellt sich die in Niedersachsen gesamtverantwortliche Polizeidirektion Lüneburg jedes Mal. Sie tut dieses mit Professionalität und Augenmaß, sowohl bei der schwierigen und umfangreichen Einsatzvorbereitung, als auch in den oftmals komplizierten Einsatzsituationen.
Die Polizei gewährleistet dabei mit motiviertem und fachkundigem Einsatz einerseits die sichere Transportdurchführung und andererseits das Demonstrationsrecht der Bürgerinnen und Bürger. Die polizeilichen Maßnahmen im Einsatz richten sich dabei ausschließlich nach Recht und Gesetz und werden lageangepasst sowie recht- und verhältnismäßig getroffen. Ich darf mich an dieser Stelle bei allen eingesetzten Beamtinnen und Beamten bedanken.
Besonderheiten des Transportes 2010 – Einsatzvorbereitung
Im Jahr 2010 stand der Castortransport auch besonders im Fokus des öffentlichen Interesses. Folge für die Polizei war, dass aufgrund von Erkenntnissen zu einem gesteigerten Protestumfang auch der Personalansatz gegenüber dem Einsatz 2008 um ca. 700 Kräfte auf etwa 10.500 Einsatzkräfte verstärkt werden musste. Für den mehrtägigen Dauereinsatz dieser Kräfte hatte die Polizeidirektion Lüneburg erneut ein schlüssiges Einsatzkonzept erstellt. Die Versorgung und Unterbringung der Einsatzkräfte entsprechend den bundesweit festgelegten Mindeststandards war durch ein umfassendes Logistikkonzept ebenfalls sichergestellt.
Der Castoreinsatz 2010 war fachlich hervorragend und verantwortungsbewusst geplant und vorbereitet! Auch die Zusammenarbeit zwischen Landes- und Bundespolizei verlief unproblematisch. Sowohl Vorbereitung als auch Durchführung des Einsatzes basierten auf abgestimmten Einsatzleitlinien und erfolgten jeweils im gegenseitigen Benehmen. Die Kommunikation zwischen beiden Einsatzleitungen war wie immer sichergestellt. Sofern im Einzelfall Kommunikationsdefizite auftraten, wie im Falle der Teilnahme eines französischen Beamten am Einsatz der Bundespolizei im Wendland, ist dieses gemeinsam nachbereitet worden.
Ausmaß der Proteste – Straftaten, Verletzte
Es ist richtig, dass auch 2010 der überwiegende Teil der Proteste friedlich verlief. Insgesamt haben die Proteste 2010 aber quantitativ und auch qualitativ ein Ausmaß erreicht, welches das der Vorjahre deutlich überstieg. Erneut waren dabei gewaltsame Stör- und Blockadeaktionen bis hin zu schweren Straftaten durch größere Personengruppen festzustellen.
Die Anzahl massiver Straf- und Gewalttaten ist gegenüber dem vorangegangenen Transport gestiegen. Das hat leider gleichzeitig dazu geführt, dass die Anzahl verletzter Einsatzkräfte der Landes- und Bundespolizei von 50 im Jahr 2008 auf 131 gestiegen ist.
„Castor schottern“
Insbesondere am 7.11.2010 kam es diesbezüglich zu bedenklichen Szenarien entlang der Bahnstrecke in der Göhrde. Bis zu 4.000 Personen versuchten dort mehrmals massiv die Initiative „Castor schottern“, also das Unterhöhlen von Bahngleisen durch Entfernen der Steine, in die Tat umzusetzen. Die Aktionen waren offensichtlich detailliert vorbereitet und verliefen straff organisiert.
Und das, obwohl die Staatsanwaltschaft Lüneburg die im Internet erfolgten Aufrufe zum „Castor schottern“ frühzeitig als öffentliche Aufforderung zu Straftaten eingestuft und angekündigt hatte, Ermittlungen gegen alle Unterstützer einzuleiten. Polizeikräfte, die die rechtswidrigen Aktionen unterbinden wollten, wurden mehrfach angegriffen, mit Steinen beworfen und mit Signalmunition sowie Reizstoffen beschossen. Zahlreiche Beamtinnen und Beamte wurden dabei verletzt. Unter Anwendung hoher krimineller Energie schreckten einige der Gewalttäter auch nicht davor zurück, schwerste Straftaten zu begehen. Im Fall des in Brand gesetzten Sonderwagens werden derzeit Ermittlungen aufgrund eines versuchten Tötungsdeliktes geführt.
Der Staat muss konsequent durchgreifen!
Ich sage es in aller Deutlichkeit: Diese Aktionen haben weder etwas mit friedlichem Protest gegen Atomtransporte zu tun, noch sind sie durch das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit gedeckt. Derartiges Tun ist gemeingefährlich und rechtswidrig. Es sind gezielte Angriffe auf den Rechtsstaat, die dieser nicht tolerieren kann!
Mehrmals mussten die Beamtinnen und Beamten zur Abwehr gegenwärtiger Gefahren Zwangsmittel anwenden, teilweise ohne dass noch eine vorherige Ankündigung möglich war. Auch wenn derzeit einzelne der Zwangsanwendungen durch die Polizei auf eine strafrechtliche Relevanz überprüft werden, habe ich keine Zweifel daran, dass die Maßnahmen der Polizei in diesem Zusammenhang insgesamt gesehen gerechtfertigt waren.
Festzuhalten ist: Nicht die Polizisten mit ihren Einsatzmaßnahmen, sondern Krawallmacher mit ihren Gewalttaten missachten bei solchen Anlässen die Versammlungsfreiheit. Gleichzeitig gelingt es diesen Straftätern immer wieder, andere für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Der friedliche Protest wird dadurch diskreditiert und polizeiliche Maßnahmen werden erschwert.
Kräftenachforderung und logistische Probleme
Die geschilderten Ereignisse in der Göhrde waren noch am Morgen des 7.11.2010 Anlass für eine Kräftenachforderung der Polizeidirektion Lüneburg, um den auftretenden Gewalttaten über einen längeren Zeitraum entgegenzutreten zu können. 1.279 Verstärkungskräfte wurden daraufhin kurzfristig aus mehreren Ländern entsandt.
Damit erhöhte sich die Anzahl der durch Niedersachsen eingesetzten Beamtinnen und Beamten auf insgesamt 11.836. Das entspricht über 2.000 Einsatzkräften mehr als im Jahr 2008. Für die lagebedingt kurzfristig nachgeforderten Kräfte standen Unterbringungskapazitäten nach den bundesweit verabredeten Standards nicht zur Verfügung, so dass Kompromisslösungen erforderlich waren.
Blockaden
Schwerwiegendere Auswirkungen auf die Logistik und gleichzeitig auf das Kräftemanagement der Polizei entstanden durch mehrere längerfristige Blockaden des Castorzuges. Hierdurch kam es zu zeitlichen Verzögerungen des Transportverlaufs, die direkten Einfluss auf die Einsatzzeiten der Beamtinnen und Beamten hatten. Einzelne Einheiten mussten länger als ursprünglich vorgesehen im Einsatz bleiben. Ein Verkürzen bzw. Unterbrechen dieser Einsatzzeiten war aber lagebedingt aus einsatztaktischen Gründen nicht möglich. Jede Alternative hätte dazu geführt, dass der Einsatz insgesamt noch länger angedauert und damit zu einer noch höheren Belastung der Kräfte geführt hätte. In einigen Fällen wurden die Einsatzzeiten für bereits auf dem Weg in die Unterkünfte befindliche Kräfte zusätzlich durch gezielte Blockaden der Rückmarschwege verlängert. Teilweise wurde auch die Versorgung von Kräften behindert, indem Versorgungsfahrzeuge der Polizei ebenfalls blockiert wurden.
Diese Vorgehensweisen haben mit friedlichem Protest nichts mehr zu tun. Sie sind rechtswidrig! Die hierfür Verantwortlichen sollten sich vor Augen führen, dass durch die Verhinderung von rechtzeitiger Ruhe und Verpflegung der Polizeikräfte auch deren Gesundheit und körperliche Unversehrtheit auf dem Spiel stehen könnten.
Gleisblockade Harlingen
In diesem Zusammenhang ist natürlich auch die große Gleisblockade durch ca. 3.000 Personen in Harlingen zu erwähnen. Auch hier hat die Polizei versammlungsfreundlich und zurückhaltend gehandelt. Erst nachdem die Blockade auch nach mehreren Kooperationsgesprächen freiwillig nicht beendet wurde, begann die Polizei gegen 01.40 Uhr mit der Räumung.
Anschließend wurden die ca. 1.200 Personen vor Ort einschließend in Gewahrsam genommen, um bis zur Zugdurchfahrt eine erneute Blockade durch diese zu verhindern. Hierfür mussten die Blockadeteilnehmer allerdings bis zu 1000 Meter weit getragen werden.
Es steht für mich außer Frage, dass sich die Polizeidirektion Lüneburg im Zusammenhang mit dem Castoreinsatz taktisch und organisatorisch ausreichend auf die Ingewahrsamnahme von bis zu 3000 Personen vorbereitet hatte. Die ihr bekannte Rechtsprechung u.a. zu Freiheitsentziehungen hat sie dabei selbstverständlich berücksichtigt. Unter anderem sind Heißgetränke und Decken verteilt sowie Toiletten bereitgestellt worden.
Dank an Einsatzkräfte; Maßnahmen im Hinblick auf nächste Transporte
Das Gelingen des Castoreinsatzes 2010 mit den geschilderten Problemlagen war keine Selbstverständlichkeit, sondern hat von allen Polizeibeamtinnen und -beamten Anstrengungen bis an die Grenze der Belastbarkeit abverlangt. Diese Leistung sowie die dabei geleistete professionelle und verantwortungsbewusste Arbeit verdient höchste Anerkennung und Dank!
Der Castor-Transport 2010 war nicht der letzte Transport in das Zwischenlager Gorleben. Es stehen noch ein Transport von HAW-Glaskokillen aus La Hague und die Rückführung von radioaktivem Abfall aus der Wiederaufarbeitung in Sellafield aus. Die Polizei des Landes Niedersachsen ist auf weiterhin hohe Belastungen im Zusammenhang mit Castortransporten vorbereitet.
Trotzdem: Die Polizeidirektion Lüneburg muss und wird alles daran setzen, bei künftigen Einsätzen Belastungsspitzen, wie wir sie im letzten Jahr erleben mussten, zu vermeiden. Dabei muss ein partiell höherer Kräfteansatz ebenso einbezogen werden wie die konsequente Nutzung polizeilicher Eingriffsbefugnisse und Einsatzmittel. Zur logistischen Hilfe wird auch weiterhin die Bundeswehr um Amtshilfe gebeten werden.
Die im Castoreinsatz 2010 aufgetretenen Probleme hinsichtlich Ver- und Entsorgungsmöglichkeiten für Einsatzkräfte nimmt die Niedersächsische Landesregierung sehr ernst. Die Polizeidirektion Lüneburg hat daher über die übliche Einsatznachbereitung hinaus eine Arbeitsgruppe beauftragt, konzeptionelle Verbesserungsmöglichkeiten für zukünftige Einsatzlagen zu erarbeiten. Dies gilt vor dem Hintergrund teilweise zu langer Einsatzzeiten auch für die Überprüfung des Kräftemanagements.
Das trotz aller Unwägbarkeiten bis zum Transportende hoch motivierte und engagierte Einschreiten der Einsatzkräfte bestätigt erneut die Leistungsfähigkeit der niedersächsischen Polizei sowie der Unterstützungskräfte aus Bund und Ländern. Ich habe mich auch vor diesem Hintergrund – unabhängig vom Ausgang des Revisionsverfahren zur Anrechnung von Bereitschaftsdiensten – dafür entschieden, den bei den letzten vier Castortransporten eingesetzten Beamtinnen, Beamten und Tarifbeschäftigten einen Freizeitausgleich in Höhe von 50 % der noch nicht angerechneten Bereitschaftsdienstzeiten zu gewähren.
Es liegt in der gemeinsamen Verantwortung von Polizei und Politik auch die künftigen Castortransporte sicher durchzuführen und gleichzeitig friedlichen Protest zu gewährleisten. Der Polizei des Landes Niedersachsen hat in diesem Sinne die Unterstützung und Rückendeckung aus dem gesamten politischen Bereich verdient.
Vielen Dank für ihre Aufmerksamkeit!”
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