Wolfenbüttel. Der Werkraum des Integrations- und Therapiezentrums (ITZ) des DRK Wolfenbüttel wirkt leer. Auf einem Tisch in der Mitte steht ein Laptop. Ergotherapeutin Anna Horstmann legt sich einige Unterlagen zurecht und deutet auf den Bildschirm. „Einen Warteraum habe ich schon geöffnet, die Patientin und ihre Eltern müssten sich gleich einloggen“, erklärt sie. Um während der Corona-Pandemie einen Kontakt zwischen Therapeuten und Patienten zu ermöglichen, können Ergotherapeuten seit Mitte März ein ärztliches Onlineportal für Telemedizin nutzen. Dies berichtet das DRK.
„Für uns und einige unserer Patienten ist das eine großartige Möglichkeit, weiterzuarbeiten und trotzdem den direkten Kontakt zu vermeiden", sagt Anna Horstmann, "aber noch ist diese Art der Therapie für uns alle neu und ungewohnt. Wir tasten uns langsam heran, was möglich ist und wie es funktioniert.“ Auf dem Bildschirm erscheint Lea-Sophie. Neben ihr im Kinderzimmer sitzt ihr Vater, der hilft, das Tablet richtig einzustellen. Als Kamera- und Mikrofoneinstellungen passen, bittet ihn seine Tochter, das Zimmer zu verlassen. Anna Horstmann lächelt; sie arbeitet erst seit einigen Wochen mit Lea-Sophie, weiß aber, wie wichtig der Grundschülerin die Ergotherapiesitzungen sind.
„Papa hat gesagt, dass meine Schwester auch wieder zu dir soll“, berichtet Lea-Sophie, während sie ein Kuscheltier als Unterstützung in ihrer Nähe positioniert. Die Ergotherapeutin hakt kurz nach, ordnet die Aussage ein und hält dann eine laminierte Karte vor die Kamera des Laptops. Darauf seien einige von Lea-Sophie gemalte Bilder und kurze Sätze mit ihren Therapiezielen. Anna Horstmann arbeite in der Sitzung daran, dass Lea-Sophie ihre Gefühlslage einschätzen könne. „Wir erarbeiten die Ziele gemeinsam mit Eltern und Kind, diese sind klar und orientieren sich an alltäglichen Tätigkeiten. Wichtig ist, dass auch jüngere Patienten die Ziele in ihren eigenen Worten beschreiben dürfen und diese mit tragen. Während Erwachsene und Therapeuten beispielsweise davon sprechen würden, dass die Konzentration oder die Frustrationstoleranz gestärkt werden soll, wünschen sich Kinder eher, besser Lesen zu können oder länger Seil zu springen“, so Horstmann. Das entspreche den gleichen Zielen, aber die Formulierungen der Erwachsenen seien für Kinder oft zu abstrakt.
Kontinuität ist wichtig
Um das Portal Sprechstunde Online zu nutzen, habe Horstmann ihre Ausbildung nachweisen müssen. Das Portal zeichne auf, ob und wie lange sie sich mit Klienten virtuell getroffen hat; die Daten könnten zur Abrechnung mit der Krankenkasse genutzt werden. Um mit einem Patienten Kontakt aufzunehmen, verschicke sie vor jedem Termin einen individuellen Link. Auch eine Materialliste habe sie an die Eltern geschickt, damit Bastelvorlagen, passende Stifte und andere Materialien während der virtuellen Behandlung bereitliegen.
Vorbereitungen, die auch für die langjährige DRK-Mitarbeiterin noch neu seien. „Wir wissen, woran wir arbeiten wollen, und haben für jede Einheit einen ungefähren Ablaufplan im Kopf. Aber jeder Patient hat gute und schlechte Tage, möchte vielleicht manche Sachen gerade nicht machen. Dann können wir hier in der Praxis schnell improvisieren und auf andere Materialien zurückgreifen. Das können wir bei virtuellen Sitzungen natürlich nicht.“
Stattdessen habe sie mehrere Alternativen überlegt, um trotzdem mit Lea-Sophie arbeiten zu können. Die scheine die ungewohnte Situation derzeit nicht zu stören. Eher wirke es, als würde sie die Abwechslung zum derzeitigen Familienleben ohne Schule und Freunde genießen. Während sie eine Gefühlsampel ausmale, plaudert sie mit Horstmann über eine Lehrerin und ihre Lieblingsfarbe. Ziel der Ergotherapie sei es, Einschränkungen oder drohende Beeinträchtigungen durch physische oder psychische Erkrankungen zu mindern oder abzuwenden und größtmögliche Selbständigkeit zu erreichen. Dafür sei die kontinuierliche Arbeit wichtig, um einmal erarbeitete Fortschritte zu festigen. Die Möglichkeit der virtuellen Therapiesitzungen biete daher für viele der Patientinnen und Patienten der DRK-Ergotherapiepraxis eine Chance. „Selbst wenn wir nicht alle Bereiche abdecken können, können wir über das Portal online den Kontakt halten und damit das Vertrauensverhältnis zwischen Therapeuten und Patienten aufrechterhalten. Dazu haben meine Kolleginnen und ich sehr viele Ideen, wie wir mit unseren Patientinnen weiter arbeiten können und tauschen uns aus. Auch mit den Kolleginnen aus der Autismusambulanz“, berichtet Horstmann.
Der Alltag ist durcheinander
Dort würden derzeit ebenfalls neue Wege ausprobiert, um den Kontakt zu den Klienten zu halten. Hierfür gebe es noch kein von den Kostenträgern anerkanntes und empfohlenes Portal. „Wir telefonieren viel mit den Familien und nutzen Video-Chat-Portale. Gerade für Menschen mit Störungen aus dem Autismus-Spektrum ist es oft wichtig, feste Strukturen einzuhalten. Die Umstellung auf eine andere Art des Kontakts ist nicht immer einfach“, erzählt Sophie Runge, Sozialarbeiterin in der Autismusambulanz des DRK-Therapiezentrums.
Auch Eltern und Angehörige würden derzeit regelmäßig anrufen oder Mails schreiben. Quarantäne und Schulschließungen würden den Alltag durcheinander bringen. Als neutrale Ansprechpartner würden Runge und ihre Kolleginnen Konflikte auflösen oder beim Perspektivenwechsel helfen. „Auch ohne die neuen Regeln zum Eindämmen des Virus erleben unsere Kunden und ihre Angehörigen immer wieder herausfordernde Situationen. Daher bleiben wir gerade in dieser Zeit für sie erreichbar und bieten auch in dieser neuen Situation eine individuelle Begleitung“, sagt Thomas Stoch, Geschäftsführer der DRK-inkluzivo und Leiter des ITZ.
Förderung auch ohne direkten Kontakt
Er könne sich vorstellen, dass die derzeitigen Erfahrungen mit virtuellen Sitzungen in Zukunft auch genutzt werden, wenn sich die Kostenträger flexibler zeigen. Ein Schritt sei bei Sprechstunde Online schon gemacht worden – die Sitzung von Anna Horstmann und Lea-Sophie werde online dokumentiert, am Ende entfalle die Unterschrift, eine Bestätigung durch die Patienten per E-Mail reiche aus. Das sei für manche Kostenträger noch Zukunftsmusik. Einige Sachbearbeiter zum Beispiel von Jugendämtern würden sich in der aktuellen Situation noch sperrig zeigen und teilweise einen direkten Kontakt zum Klienten für die Sitzungen einfordern und erwarten zum Beispiel eine original Unterschrift, bevor die Kosten übernommen werden.
„Manche können sich eben nicht vorstellen, dass auch ohne direkten Kontakt zu den Klienten eine wertvolle Förderung erbracht werden kann“, sagt Stoch. Er sei aber frohen Mutes, dass sich dies bald ändert – und freut sich über die Kreativität und das Engagement seiner therapeutischen Mitarbeiterinnen.
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