Fragende Blicke der vorbeiziehenden Passanten wanderten gestern über den Stadtmarkt. Auf dem Platz vor dem Wolfenbütteler Rathaus wurde ein riesiges Netz aus Schnüren gespannt. An diesen hängen mit Wäscheklammern befestigte handgeschriebene Botschaften.
"Wo sitzt die Jugend?" und "Was willst du?" - wird dort gefragt und mit "Entspannt euch", "Haltet inne", "Genießt die Zeit", "Macht mit" und "Hinterlasse Spuren" eine Hand voll rätselhafter Aufforderungen gestellt. Eine weitere lautet "Kommt um 20 Uhr auf den Stadtmarkt". Wer dies tat erlebte dann einen mit jungen Menschen belebten Platz, der im Kerzenschein gar romantisch erhellte und mit den Klängen des von einer Ukulele begleitenden Gesang berührend ertönte.
Das auf dem Stadtmarkt gespanntes Netz mit Botschaften Foto: Werner Heise)
Hölzerne Europaletten bildeten kleine über den Stadtmarkt verteilte Inseln an denen man sich niedergelassen hatte. An einer von ihnen entdecken wir Nikola Markovic, eben jenen Stipendiat der Robert Bosch Stiftung an der Bundesakademie für kulturelle Bildung den wir bereits am Samstagabend beim offenen Werkstattabend seines derzeit in Wolfenbüttel für international angereiste Gäste stattfindenden Workshops "Kultureller Inkubator - Vom passiven Beobachter zum kulturellen Akteur und Mitgestalter" trafen. Die Teilnehmenden dieses Workshops kommen aus Ungarn, Litauen, Serbien, Bosnien und Deutschland und beschäftigen sich mit dem Thema alternative Stadtentwicklung und den damit verbundenen gesamteuropäischen Problemen wie beispielsweise Armut, soziale und kulturelle Marginalisierung oder auch Umweltproblemen wie Lärm und Müll. Sie sind überwiegend Teil der Goethe-Guerilla Plattform des Goethe-Instituts (WolfenbüttelHeute.de berichtete bereits ausführlich).
Markovic erzählt uns das diese ungewöhnliche Aktion auf dem Stadtmarkt Teil einer Gruppenarbeit ist, die ebenso wie drei weitere Arbeiten aus dem Workshop hervorgegangen sei. Er winkt die deutsche Katja Manz heran, die mit ihrer Gruppe, in der noch je zwei Leute aus Bosnien und Litauen sowie ein Teilnehmer aus Belgrad und ein weiterer aus Deutschland tätig waren, das Netz gespannt und erarbeitet hat. Die Diplom Human Geografin aus Chemnitz mit dem Interesse an alternativer Stadtentwicklung und interkulturellen Projekten berichtet, dass sie das Thema "Leerstand in der Stadt" bearbeiten mussten. Bei einem Streifzug durch die Wolfenbütteler Innenstadt sei ihnen dann neben Hertie auch der Stadtmarkt ins Auge gefallen. Ein großer Platz der still und leer steht. "Plätze werden doch zur Begegnung genutzt", erzählt sie und fragt sich wo die ganzen Menschen und vor allem die Jugendlichen sind. "Wir haben beobachtet das die Menschen diesen Platz nur zum Transit auf ihren Wegen benutzen. Es mangelt hier an Sitzmöglichkeiten, an jungen Leuten und der Chance miteinander in Kontakt zu treten."
Nachdem sie erst einen Fahrradständer am alten Hertie-Kaufhaus zu einer Sitzmöglichkeit umgewandelt hatten, spannte man einen "leitenden Faden" als Wegweiser Richtung Stadtmarkt. Hier hat man nun symbolisch für den erkannten Missstand das Netz als "Ort der Vernetzung" gespannt und möchte zum Nachdenken und zur Diskussion bei den Wolfenbüttelern anregen. Mit eigens kreierten Logo nennen sie den Platz "Sitzbüttel".
An diesem Abend verirren sich nur wenige Menschen auf den Stadtmarkt, bleiben stehen und wundern sich. Einige werden aktiv von den Akteuren, die allesamt ein bewundernswertes fließendes Deutsch sprechen, angesprochen und eingeladen bei Rot- und Weißwein an einer der "Inseln" Platz zu nehmen und ins Gespräch zu kommen. Die Rückmeldung dieser Wolfenbütteler ist interessiert und der Aktion gegenüber positiv zustimmend.
Während um 23:30 Uhr Felix, ein 21-jährige Kölner mit jahrelanger Lebenserfahrung in der Ukraine, seinen letzten Song auf der Ukulele spielt, nachdem zuvor eine Mischung aus russischen, ukrainischen und deutschen Volksliedern und Evergreens erklang, räumen andere Sitzkissen, Teelichter, Becher und Flaschen ein. Anschließend kehrt der altbekannte Stillstand vor dem Wolfenbütteler Rathaus ein - nur das Netz mit seinen Fragen und Aufforderungen bleibt zurück und trägt die Botschaft weiter.
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