Sozialkompetenz für 100 Euro im Jahr: Hauptschüler lernen durch Erlebnispädagogik

von Christina Balder




Braunschweig. Eine halbe, gar eine ganze Minute sitzen und zuhören? Für etliche Fünftklässler der Pestalozzi-Hauptschule war das vor zwei Jahren ein Ding der Unmöglichkeit. Ein Kooperationsprojekt der Schule mit dem AWO-Förderzentrum Lotte Lemke hat über zwei Jahre den Schülern bei der Entwicklung ihrer Persönlichkeit geholfen. Das Ziel des Projektes ist es, die Hauptschule zu stärken und die Kinder zu motivieren, wieder gern zur Schule zu gehen. Alle Beteiligten sind sich einig: Der Preis ist verkraftbar, der Nutzen groß.

Ein Mal pro Monat haben die fünften Klassen der Pestalozzi-Hauptschule keinen Unterricht in der Klasse, sondern probieren sich in erlebnispädagogischen Trainings aus. Sie wandern, üben sich in Teamarbeit und Vertrauen ineinander und sich selbst. "Wir lassen sie Wagnisse eingehen - gesellschaftlich legitime, bei denen sie nicht in Konflikt mit der Polizei geraten", erzählt Nils Borkowski, Projektleiter vom Peterscamp. Er begleitet die Schüler während der zwei Jahre.

Die Ziele, die sich alle Beteiligten gesteckt haben, halten sie für erreicht. Angelika Beinroth, die Rektorin der Schule, erzählt: "Die  Kinder kommen aus verschiedenen Schulen zu uns, sind nicht unbedingt motiviert. Und während wir im Unterricht eher defizitorientiert arbeiten und eben allen den Stoff beibringen müssen, werden im Projekt die Stärken der Kinder hervorgehoben." Durch die regelmäßigen Veranstaltungen über zwei Jahre hinweg sei der Nutzen auch nachhaltig. Gemeinsame Erlebnisse stärkten nicht nur das Selbstvertrauen der Einzelnen, sondern den Zusammenhalt der Gruppe. Lehrerin Anna-Lena Hinzmann erkennt im direkten Kontakt mit ihren Schülern Unterschiede und auch in der Klasse. "Gerade stille Schüler trauen sich mehr zu", sagt sie.

Erst die sozialen Grundlagen, dann die Bildung


"Es ist eine Gesprächskultur entstanden", beobachtet auch Henning Passier, der als Schulsozialarbeiter an der Pestalozzi-Schule tätig ist. "Einige Schüler waren vorher manchmal gar nicht ansprechbar in ihrer Erregung über irgendetwas." Das zeige: häufig reiche das Paket an Sozialkompetenz und Schulmotivation, das die Kinder von Zuhause mitbekommen, nicht von alleine, um einen Abschluss zu erreichen. "Bevor man an Bildung denkt, muss man erst einmal die sozialen Grundlagen legen", fordert Passier.

Das würde auch Axel Bauermann freuen. Er ist Ausbilder bei Volkswagen in Braunschweig und beobachtet das Projekt mit Interesse. "Hunderte Lehrstellen sind frei, können aber wegen der fehlenden Qualifikation der Schüler nicht besetzt werden", beklagt er. Er erhofft sich von der pädagogischen Arbeit mit den Pestalozzi-Schülern einen guten Schritt in Richtung guter Lehrlinge. "Das Problem betrifft ja alle Betriebe", sagt er. "Eigentlich müssten alle einen Beitrag zahlen, um solche Projekte zu finanzieren."

100 Euro pro Kind und Jahr


Im Moment sind es die Richard Borek-Stiftung und die Alternative Sport, die es fördern. Erika Borek, die mit ihrem Mann Richard der Stiftung vorsteht, sieht eigentlich die Politik in Stadt und Land in der Verantwortung. "Jedes Kind, das keinen Schulabschluss hat, geht später zulasten des Staates", sagt sie. Da müsse es eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein, dass Stadt und Land sich finanziell in solchen Projekten engagierten. Dennoch habe sich von staatlicher Seite bisher niemand gefunden.

Um riesige Beträge geht es dabei nicht. 16.000 Euro kostet es, vier Klassen ein Schuljahr lang an dem Projekt teilnehmen zu lassen. "Im Vergleich: Heimunterbringung kostet pro Monat drei- bis viertausend Euro - pro Kind!", sagt Henning Passier. Bei 80 Schülern kommt das Peterscamp-Projekt auf 100 Euro pro Kind und Jahr.

"Die Hauptschule braucht eher Nähe zur Förder- als zur Realschule"


Politisch wird Erika Borek auch beim Thema Hauptschule. "Die muss bestehen bleiben", fordert sie. "Wo sollen die Schüler denn sonst hin?" Auch Henning Passier wünscht sich, dass die Hauptschule sich nicht noch mehr der Realschule annähere, nur um des besseren Rufes willen. "Zumindest in der fünften und sechsten Klasse müsste die Hauptschule eher die Nähe zur Förderschule suchen", sagt er.


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