Braunschweig. Unsere Innenstädte sind seit Jahren im Wandel. Die Corona-Pandemie hat diesen nun sogar beschleunigt. So wie wir unsere Innenstädte heute kennen, werden sie in zehn oder zwanzig Jahren nicht mehr aussehen. Eine Entwicklung, der auch Braunschweig nicht ausweichen kann. Für unsere Artikelserie "Zukunft Innenstadt" hat regionalHeute.de mit Experten, Politikern und Beamten über die Zukunft der Braunschweiger City gesprochen und einen Blick in die Kristallkugel gewagt.
Wenn er nach Asien reist, erzählt Jan Gehl, werde er oft auf seine Heimatstadt Kopenhagen angesprochen. Überall - so seine Gesprächspartner - sähe man Kinder auf der Straße. Wie die dänische Regierung denn entgegen dem allgemeinen Trend in Europa für einen derartigen Babyboom gesorgt habe, will man von ihm wissen. Das habe die Regierung gar nicht, erzählt der 83-jährige Gehl in einem Gespräch mit dem Magazin brandeins. Stattdessen habe sie den Verkehrsraum umverteilt. Parkplätze gestrichen, Radwege vergrößert und Flächen für alle nutzbar gemacht. Die Folge: Die Kinder spielten mitten in der Großstadt auf der Straße. In vielen Großstädten heute unvorstellbar. Und doch hat Gehl dafür gesorgt. Die Autos hätten trotzdem ihren Platz, nur eben außerhalb der Innenstadt, in Parkhäusern und Tiefgaragen.
Jan Gehl hat Großstädte auf der ganzen Welt geplant und umgebaut. Der 83-jährige Architekt gilt als Pionier der fahrradfreundlichen Innenstadt. Foto: Sandra Henningson
Der Architekt hat mehrere Weltmetropolen umgebaut, die sich regelmäßig in Rankings der lebenswertesten Städte weltweit wiederfinden, darunter Stockholm, Melbourne, Zürich und natürlich Kopenhagen. Aber auch am Wolfsburger Nordkopf ist sein Büro derzeit tätig. Sein Konzept, erklärt Gehl im Gespräch mit regionalHeute.de sei eigentlich denkbar einfach. "Städte müssen für Menschen gebaut sein, nicht für Autos." Nach dem Zweiten Weltkrieg seien viele Städte im Stil des Funktionalismus gebaut worden: Hochhäuser, breite Straßen, Glasfassaden. Sie seien nicht mehr organisch gewachsen, wie in der Vergangenheit, beeinflusst durch die aktuellen Interessen der Bewohner, sie seien funktional geplant wurden. Gut für Gebäude und Autos, nicht für Menschen, glaubt Gehl. Das müsse sich wieder ändern.
Städte müssen für Menschen gebaut sein, nicht für Autos.
Die autogerechte Stadt
Im Zweiten Weltkrieg wurde die Braunschweiger Innenstadt zu über 90 Prozent zerstört. Die ehemals von Fachwerkhäusern geprägte Löwenstadt glich einem Trümmerhaufen. Der Wiederaufbau wurde vom Braunschweiger Architekten Friedrich Wilhelm Krämer geplant, dessen bauliche Philosophie vor einem eins erfüllen musste: Funktionalität.
Die ehemals von engen Gassen und historischen Gebäuden geprägte Innenstadt sollte autogerecht werden. Aus den Trümmern sollte ein, nach damaligen Standards, hochmodernes Braunschweig entstehen. Die Folge waren breite Straßen für Autos, hohe Gebäude mit Beton- und Glasfassaden entstanden. Für Fußgänger und Radfahrer blieb Platz. Die eingeplanten Fußwege gingen sowieso nur von der Wohnung zum Auto und von dort zum Arbeitsplatz.
Dr.-Ing. Frank Schröter forscht an der TU Braunschweig unter anderem zu den Themen Stadtplanung und nachhaltiger Mobilität. Er will Autos nicht aus der Innenstadt verbannen, ihr Privileg müsse aber gebrochen werden, glaubt der Ingenieur. Foto: privat
Die ohnehin stark beschädigten Gebäude aus Renaissance und Mittelalter wurde abgerissen, um Platz für Parkplätze und Fahrbahnen zu schaffen. Das Auto wurde für jedermann verfügbar, es wurde Statussymbol. Heute dagegen sehen viele diese Entwicklung kritisch. Auch Dr. Frank Schröter, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät Architektur, Bauingenieurwesen und Umweltwissenschaften der TU Braunschweig. Schröter hält, ähnlich wie Gehl, die Platzverteilung im öffentlichen Raum für das Hauptproblem. Autos aus der Innenstadt verbannen, will er dann aber doch nicht.
Das Problem der Platzverteilung
Schröter sieht im Grunde kein Problem mit Autoverkehr in der Innenstadt, sofern der auch die City als Ziel habe. Autofahrer müssten sich jedoch von ihrer privilegierten Stellung verabschieden, glaubt der Wissenschaftler. Bisher, habe das Augenmerk darauf gelegen, den Autoverkehr fließen zu lassen, auch im Zentrum. Andere Verkehrsteilnehmer hätten darunter leiden müssen. Die Erfahrung habe aber gezeigt, dass der Verkehr nicht zwangsläufig durch die Stadtmitte geleitet werden müsse, um zu fließen.
"Der Verkehr sucht sich seine Wege selbst", erklärt Schröter. Als Beispiel hierfür nennt er Baustellen auf dem Ring, wo die zur Verfügung stehende Fläche für Autos deutlich reduziert worden sei: "Es kam zu keiner extremen Stausituation. Nur in der ersten Woche, bis sich alle daran gewöhnt hatten." Dann habe sich der Verkehr selbst an die Situation angepasst. Im Grunde müssten die Verantwortlichen sehen, wo welches Fahrzeug sinnvoller Teil des Straßenverkehrs sei. Autofahrer, die nicht in die Innenstadt wollten, müssten auch nicht durch die Innenstadt fahren. Dadurch würde das Verkehrsaufkommen verringert, was zu mehr Platz führe, der wiederum neu verteilt werden könnte.
Eine neue Parksituation
Denn Platz stehe eben nicht unbegrenzt zur Verfügung. Man könne nicht ohne Weiteres ein paar Meter mehr für andere Verkehrsteilnehmer ausweisen, der Platz sei durch Grundstücks- und Gebäudegrenzen beschränkt. Letztlich laufe es also immer auf Verteilungsgerechtigkeit im begrenzten Raum hinaus. Auch wenn das Auto seine Berechtigung habe, so Schröter, würde die Zukunft zulasten der Autofahrer gehen. Letztlich müssten aus Sicht des Experten entweder Parkflächen oder Fahrstreifen weichen. Beides in der heutigen Form zu halten, sieht Schröter kritisch.
Ein Großteil der Braunschweiger Parkkapazitäten ist meist nicht ausgelastet. Experten schlagen vor Parkstreifen zu streichen und stattdessen Parkhäuser, wie dieses am BraWo-Park, mehr zu nutzen. Foto: Robert Braumann
Immerhin sei die Innenstadt von Parkhäusern umringt, die, von Spitzenzeiten an Weihnachten einmal abgesehen, nie wirklich ausgelastet seien. Wenn das Parken in die Häuser verlagert würde, würde enorm viel Platz frei, der für Fahrräder, Fußgänger und ÖPNV genutzt werden könnte. PKWs müssten als zielgerichtet geleitet werden. Systeme wie "Park + Ride" oder Carsharing könnten dafür sorgen, dass die Innenstadt weiter mit dem Auto erreichbar wäre, gleichzeitig aber für eine Entzerrung des Gesamtverkehrs sorgen.
Heilsbringer autonomes Fahren?
Aber, so könnte man Fragen, hat sich all das nicht sowieso erledigt, wenn die Autos erst einmal autonom fahren? Wenn die Autos untereinander kommunizieren und so den Platz optimal ausnutzen, der ihnen zur Verfügung steht? Wenn keine Parkplätze mehr benötigt würden, weil das Fahrzeug sowieso immer von Fahrgast zu Fahrgast unterwegs seien? Nein, sagt Schröter und ist dabei deutlich. Autonomes Fahren sei aktuell für lange Strecken geeignet, vor allem für Autobahnen, wo vergleichsweise einfach Situation zu bewältigen seien. Ein Spurwechsel oder ein Stau seien hier die Regel, nicht ein Kind, das zwischen den Autos hervorspringt oder ein unaufmerksamer Fußgänger, der über eine rote Ampel läuft.
Die Innenstadt sei eine andere Geschichte. Der Platz müsste also baulich verteilt werden. Abgegrenzte Fahrradwege, Parkflächen über oder unter der Straße und bestimmte Zonen für den Lieferverkehr, ein ausgebauter, zuverlässiger ÖPNV. Dann könnte der Verkehr der Zukunft gemacht werden, ohne Teilnehmer auszuschließen, dafür aber mit - nach Schröters Meinung - gerecht verteiltem Platz. Darüber sind sich Gehl und Schröter einig. Gerade im Einzelhandel wird diese Vision jedoch kritisch mitverfolgt. Denn auch die Branche steht vor einem Zeitenwandel, auch in Braunschweig.
Mehr dazu lesen Sie am morgigen Dienstag - im nächsten Teil dieser Serie.
Artikelserie "Zukunft Innenstadt":
- Teil 1: - dieser Artikel -
- Teil 2: Das Ende der Shoppingmeile?
- Teil 3: Wie die Braunschweiger Politik die Einkaufsmeile retten will
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