"30 Jahre Grenzenlos" - Gedenkveranstaltung in Mattierzoll


Alexandra Reinhardt, Ernst-Henning Jahn, Dieter Steinecke, Sigmar Gabriel, Jürgen Gansäuer am B-Turm.
Foto: Bernd-Uwe Meyer
Alexandra Reinhardt, Ernst-Henning Jahn, Dieter Steinecke, Sigmar Gabriel, Jürgen Gansäuer am B-Turm. Foto: Bernd-Uwe Meyer

Winnigstedt. Bereits zum Beobachtungsturm bei Mattierzoll kamen hunderte Menschen zusammen und feierten gemeinsam „30 Jahre grenzenlos“. Für den ehemaligen Wolfenbütteler Landrat sind die Ereignisse am 12. November 1989 die „bewegensten Momente“ seines Lebens gewesen. Über das Ereignis berichtet der Roklumer Bernd-Uwe Meyer


Mit Heinz Mühlenkamp (Rohrsheim), dem ehemaligen Wolfenbütteler Oberkreisdirektor Dr. Ernst-Hartmut Koneffke und Pfarrer Stephan Werther aus Osterode, Motor der damaligen kritischen Oppositionellen vor Ort, organisierte der Watzumer Jahn die bemerkenswerte Erinnerungsfeier.

"Das beste Deutschland, das es jemals gab"


Auf die Ereignisse vor 30 Jahren blickten die beiden Landtagspräsidenten a. D., Dieter Steinecke, Magdeburg und Jürgen Gansäuer, Laatzen zurück. Bundesminister a. D. Sigmar Gabriel betonte am Turm: „Wir haben das beste Deutschland, das es jemals gab.“ Bald fuhren die Gottesdienstbesucher zur Johannes-Kirche nach Veltheim, wo bereits viele Gäste warteten und staunten; denn rasant füllten sich alle Bänke unten und auf der Empore. Eilig wurden Stühle herbeigeholt. Über 200 Besucher wohnten dem Gottesdienst bei. „Dies ist der Tag, den der Herr macht; lasst uns freuen und fröhlich an ihm sein“, (Psalm 118,24), lautete der Festgottesdienst-Leitgedanke. Jonas Werther an der Orgel leitete den Gottesdienst ein. Dann sangen die beiden Concordia-Männerchöre aus Veltheim und Rohrsheim, von Werner Gebbert dirigiert, „Ode an die Freude“.

Das Geschenk der deutschen Einheit


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Die Kirche war anlässlich der Feierlichkeiten gut gefüllt. Foto:



Danach predigte Stephan Werther beeindruckende Sätze, die zahlreichen Kirchenbesuchern mit Sicherheit in Erinnerung bleiben. Der Pfarrer blickte auf die Ereignisse vom 9. bis zum 12. November 1989 zurück: „Keiner hatte damit gerechnet, dass die ideologisch verknöcherten Politbürofossile über Nacht entzaubert und all ihrer Macht beraubt wurden und nun im hellen Licht der Wirklichkeit stehend sich als das herausstellten, was sie waren: spießige, kleinbürgerliche Greise von wahrhaft trauriger Gestalt.“ Es sei aber bei vielen Bürgern eine Angst vor einer „chinesischen Lösung“ vorhanden gewesen, „von der Lügenbaron Krenz noch schwadroniert“ hatte.

Auch heute würde Werther nicht ohne innere Bewegung am Kommandoturm an der B 79 vorbeifahren. Freude und Dankbarkeit bewegen den Pfarrer „auch dreißig Jahre später angesichts dieses Geschenks“ der deutschen Einheit.

"Es ist damals kein Schuss gefallen"


„Dass sich vieles im Rückblick als fehlerhaft herausstellte und dringender Reparatur bedurfte und bedarf, will ich hier nicht weiter thematisieren“, merkte er kritisch an. Er dankte Michail Gorbatschow, der dafür sorgte, dass die sowjetischen Panzer in ihren Stützpunkten blieben. „Es ist damals kein Schuss gefallen, angesichts der Gewaltorgie zum 40. Jahrestag, ein unfassbares Wunder. Der gewaltlose Aufstand gegen die totale Entmündigung durch den DDR-Staat, mit Kerzen und Chorälen in den protestantischen Kirchen geboren, führte in seiner Gewaltlosigkeit zum Ziel.“

Werther erinnerte an das „Verschwinden einer bis an die Zähne hochgerüsteten NVA“ und daran, dass ein „Volk Reparationen für einen verlorenen Krieg an sich selbst gezahlt“ hat sowie an „populistische Großmäuler und Hetzer, die sich im Land breit machen, und ihren politischen Honig einzig und allein aus Fremdenfeindlichkeit ziehen, ohne eine vernünftige Idee“ zu haben. „Dankbare Erinnerung macht nur wirklich einen Sinn, wenn sie die Gegenwart verändert“, erwähnte der Pfarrer fast zum Schluss seiner oft gelobten Predigt.

Eine starke Veltheimer Gemeinschaft


Veltheims Bürgermeister Tobias Kruse ist am 12.November 1989 noch nicht auf der Welt gewesen und will sich ein geteiltes Deutschland „nicht mehr vorstellen“, sondern selbstverständlich in der Partnergemeinde Roklum seine „Brötchen kaufen und dort mit der Feuerwehr üben.“ Er sprach von einer „starken Veltheimer Gemeinschaft“, bedankte sich bei allen Amtsvorgängern und überreichte Jürgen Junker ein Präsent. Der Roklumer Bürgermeister Karl-Heinz Müller erinnerte an die schon bald nach der Grenzöffnung geschlossene Partnerschaft mit Veltheim, die sich „mit Leben gefüllt“ habe.

Anschließend wurde im Festzelt auf dem Kirchplatz gegessen und fröhlich gefeiert. Werther begrüßte Detlef Schönfeld als Stellvertreter der Osterwiecker Bürgermeisterin und dankte dem ersten frei gewählten Hessener Bürgermeister Enrico Kretschmar und Klaus Bogoslaw, der nach seiner Bürgermeistertätigkeit bald nach der friedlichen Revolution als Gemeindedirektor amtierte.

Leute in Russland haben es geahnt


Jürgen Gansäuer sprach von einem „großartigen Gottesdienst mit einer ganz besonderen Predigt“ und erinnerte an die über 1.000 Menschen, die an der innerdeutschen Grenze ihr Leben lassen mussten. Dieter Steinecke erinnerte an „Polen, Tschechen und Ungarn“, die dazu beitrugen, dass „in der DDR die Menschen mutiger“ wurden.
Sigmar Gabriel nannte sich „Beute-Ossi“ weil seine Frau aus Sandersleben stammt und betonte: „Was soll man nach dieser Predigt noch sagen. Bei der SPD in Wolfenbüttel wird ein Abgeordnetenmandat frei, das wäre eine kontinuierliche Fortsetzung.“ Der Politker aus Goslar blickte auf seine einige Jahre vor der Grezöffnung erfolgte Reise nach St. Petersburg und dort geführte Gespräche zurück: „Offensichtlich gab es schon seit geraumer Zeit in Russland Leute, die ahnten, dass die Zeit der DDR-Machthaber bald vorbei ist.“

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"Ich wäre froh, wenn du noch Außenminister wärst"


„Wir brauchen mehr von ihnen, schade, dass sie gehen“, rief Stephan Werther und bekam Beifall. Bevor Gabriel (SPD) seine Heimreise antrat, betonte Ernst-Henning Jahn (CDU): „Ich wäre froh, wenn du noch Außenminister wärst. Es ist eine großartige Sache, dass wir hier gemeinsam zusammenstehen können.“ Dann dankte der in der gesamten Fallsteinregion bekannte Ex-Landrat Mitorganisatoren, Helfern und Besuchern und rief dazu auf, „gemeinsam Aufgaben in Frieden, Freiheit und mit Freude“ zu lösen. Ach hierfür gab es kräftigen Applaus. Zum Schluss sorgte der Veltheimer Schalmeienzug im Festzelt für abwechslungsreiche Klänge und Minuten. Chronist Rolf Maximilian sorgte dafür, dass die Besucher zahlreiche Fotos, die auf mehreren Tischen lagen, aus der Zeit der Grenzöffnung betrachten konnten.


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