Wolfenbüttel. Was für Thomas Stoch völlig normal ist, ruft bei einigen Menschen Mitleid oder Hemmungen hervor. Der 44-Jährige Sozialarbeiter ist der Leiter des Integrations- und Therapiezentrums (ITZ) des DRK. Wenn er eines zu schätzen weiß, dann ist es der unbedarfte Umgang zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen.
Thomas Stoch weiß, dass der erste Kontakt zu Menschen mit Behinderungen zeitweilig etwas verwirrend sein kann. Als er in den 90er Jahren das erste Mal mit geistig behinderten Menschen zu tun hatte, war auch er irritiert. "Natürlich musste auch ich anfänglich damit zurechtkommen, wenn mir eine solche Ehrlichkeit entgegen schlug. Wenn dich jemand mag, dann sagt er es dir sofort. Wenn er dich doof findet, dann eben auch.“ Es könne auch passieren, dass man spontan umarmt werde – ein erfrischender und ehrlicher Ausdruck des eigenen Gefühls, die der Sozialarbeiter heute als Besonderheit empfindet. Diese Begegnungen begleiten ihn und seine Mitarbeiter durch den beruflichen Alltag, wenn die Einrichtung Eltern, Kindern oder Erwachsenen hilft, die Herausforderungen des täglichen Lebens zu meistern.
An der Seite der Familien
Thomas Stoch besucht den Judo-Kurs von Trainer Martin von den Benken. Foto: Sina Rühland
Als Thomas Stoch von der schwäbischen Alb bei Heidenheim nach Braunschweig zog, um Soziale Arbeit zu studieren, war der Begriff „Inklusion“ noch kein Thema. "Ich habe zwar während meines Zivildienstes mit Menschen mit Behinderungen zusammen gearbeitet, jedoch war mir damals noch nicht klar, in welche Richtung meine berufliche Zukunft gehen sollte“, erzählt er. Stoch baute einst den Familienentlastenden Dienst (FED) für die Evangelische Kirche in Braunschweig auf. Eines seiner ersten Projekte war die Organisation von Familienfreizeiten, die Kindern mit Behinderungen und ihren Angehörigen ermöglichen sollten, Zeit außerhalb des stressigen Alltags miteinander zu verbringen. Im Jahr 2003 führte ihn seine Arbeit nach Wolfenbüttel, wo er für das Deutsche Rote Kreuz einen FED und letztlich das Integrations- und Therapiezentrum aufbaute. Ihm sei klar gewesen, dass Familien mit behinderten Kindern oftmals Unterstützung im Alltag bräuchten. So helfen die Mitarbeiter des Zentrums zum Beispiel bei nervenzehrenden bürokratischen Formalien und bei Anträgen, sie entlasten Eltern, die ihre Kinder 24 Stunden am Tag versorgen müssen. Stoch und seine Mitarbeiter vermitteln Betreuungskräfte oder fördern Menschen, um ihnen eine echte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen, ein Leben nach eigenen Wünschen das auch alle anderen Menschen ohne Behinderung leben dürfen. "Häufig können wir Familien dabei helfen, gegen starre Verwaltungsstrukturen zu kämpfen und ihre Rechte durchzusetzen – das ist ein toller Antrieb, denn in der Regel sind wir gemeinsam mit den Eltern erfolgreich“, erklärt Stoch.
Für jeden Menschen die geeignete Lösung
Auch wenn Thomas Stoch mittlerweile mehr mit dem Organisieren und Managen des Zentrums zu tun hat, so schaut er immer wieder gerne überall herein, wenn in den Räumen des ITZ Gruppenangebote oder Therapien stattfinden. Im großen Saal findet gerade Judo-Training statt. Trainer Martin von den Benken sitzt mit jungen Erwachsen auf Gymnastikbällen und trainiert das Gleichgewicht. Stoch schnappt sich einen Ball, zieht sich die Schuhe aus und macht mit. Diesen Kontakt brauche er immer wieder um zu sehen wofür er arbeitet, sagt er. "Ich sitze zwar nicht mehr an den Küchentischen und führe Beratungsgespräche und fahre auch nicht mehr mit ins Schwimmbad. Das ist einerseits schade, aber andererseits kann ich so dafür sorgen, dass unsere Einrichtung nachhaltig organisiert wird und dass die gute Idee sich weiter entwickeln kann. Ich bin glücklich, mit meiner Arbeit etwas gestalten zu können.“ Und er sei noch lange nicht am Ende. Die nächste Vision sei schon in den ersten Zügen, erzählt er. Da er kein Freund davon sei, Menschen mit Behinderungen in großen Einrichtungen wohnen und in Werkstätten arbeiten zu lassen, hätte er eine Idee. Welche möchte er aber noch nicht verraten. "Nur so viel: für jeden Menschen gibt es eine individuelle Lösung, einen persönlichen Hilfebedarf. Einige Menschen mit Behinderungen können durchaus alleine wohnen und selbständiger arbeiten als es zunächst den Anschein macht. Sie brauchen manchmal nur ein wenig Hilfe – das bietet Alternativen zu großen Einrichtungen. Zum Beispiel Häuser, in denen Menschen mit und ohne Behinderungen zusammen leben können. Genau hier entsteht Inklusion, sagt er, auch wenn er dieses Wort nicht besonders möge, weil es häufig missbräuchlich genutzt wird. "Wir haben Inklusion erst erreicht, wenn keiner mehr darüber spricht.“
Wie weit ist Deutschland?
Thomas Stoch: "Ich kann mir keine andere Arbeit vorstellen." Foto: Sina Rühland
Was die Selbstverständlichkeit des Zusammenlebens zwischen allen Menschen angehe, sei Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern noch nicht sonderlich weit. Stoch ist Vize-Präsident der International Short Break Association (ISBA), einem weltweiten Verbund von Anbietern der Behindertenhilfe. Innerhalb dieses globalen Netzwerkes tauschen sich die Mitglieder über die Standards, über Gesetzesnovellen und den gesellschaftlichen Umgang mit Behinderung aus. „In Ländern wie Norwegen, Island oder Italien geht man ganz anders mit behinderten Menschen um. Dort ist es seit langem so, dass alle Schüler gemeinsam zur Schule gehen. Die Lehrer sind dafür ausgebildet und es ist schlicht und einfach ganz normal. In Deutschland ist zum Beispiel die Antragstellung für ambulante Hilfen und Pflegestufen mit einem hohen Aufwand verbunden. "Es gibt Länder, da funktioniert das einfacher – man geht einfach zum Rathaus und wird beraten“, erzählt er. "In der Praxis ist das bei uns völlig anders, man muss häufig für seine Rechte kämpfen.“ Auf die Frage, wie es in Wolfenbüttel mit der Normalität des Miteinanders stehe, sagt Stoch, dass es auch hier noch immer sehr viele Sondereinrichtungen gebe. "Behinderungen wird bei uns schon seit vielen Jahren systematisch wegorganisiert.“
Inklusion ist also erst dann erfolgreich, wenn es wirklich normal ist, anders zu sein. Wenn man nicht mehr von "inklusiven Fußballtournieren“, "inklusiven Rockbands“ oder von "inklusiven Schulklassen“ spricht. Wenn Verwaltungsapparate so funktionieren, dass ein jeder sie verstehen kann, wenn es ganz normal ist Mitschüler, Kollegen oder Nachbarn mit einer Behinderung zu haben. So lange unterstützen Thomas Stoch und seine Mitarbeiter die Betroffenen und ihre Familien. "Die meisten von ihnen hatten im Übrigen nie damit gerechnet, selbst einmal mit diesem Thema zu tun zu haben. Ich kann mir jedenfalls keine andere Arbeit vorstellen, es ist eine wirklich tolle Aufgabe.“
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