Angststörungen und Einsamkeit - Was die Pandemie mit unserer Psyche anstellt

Ein Braunschweiger Psychiater macht sich Sorgen um Spätfolgen der Pandemie. Besonders für bereits von psychischen Krankheiten Betroffene ist der Lockdown aber schon jetzt zum Teil eine große Herausforderung.

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Die Psychologen sind sich einig: Der Mangel an sozialen Aktivitäten und Kontakten belastet die Menschen am stärksten. (Symbolbild)
Die Psychologen sind sich einig: Der Mangel an sozialen Aktivitäten und Kontakten belastet die Menschen am stärksten. (Symbolbild) | Foto: Pixabay

Region. Die Krankenkasse DAK verzeichnete im ersten Halbjahr 2020 einen Anstieg der Krankschreibungen wegen psychischer Erkrankungen um elf Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum. Bei der Techniker Krankenkasse (TKK) waren es 10,5 Prozent. Am stärksten treffe es laut Psychologen Personen, die bereits psychisch vorerkrankt seien. Depressionen und Angststörungen sind auf dem Vormarsch. regionalHeute.de sprach über die seelischen Folgen der Pandemie mit Dr. Alexander Diehl, Chefarzt für Psychiatrie und Psychotherapie im Klinikum Braunschweig und mit Georgia Wendling-Platz, Oberärztin in der Klinik Dr. Fontheim in Liebenburg.


Die Zahlen bei den psychischen Erkrankungen stiegen seit Jahren, ordnet eine Sprecherin der Techniker Krankenkasse die gestiegene Zahl der Krankschreibungen ein. Seit dem Jahr 2000 haben sie sich fast verdoppelt. Mit der Pandemie lasse sich allerdings "kaum ein nachvollziehbarer Zusammenhang konstruieren", wie es in einem Bericht der Krankenkasse heißt. Insgesamt erhöhte sich die Zahl der Krankschreibungen im ersten Halbjahr nur leicht, was DAK und TKK als Beleg dafür heranziehen, dass die Möglichkeit der telefonischen Krankschreibung nicht wie von Arbeitgebern befürchtet zu Massenkrankschreibungen geführt hat.

Dr. Diehl und Wendling-Platz weisen darauf hin, dass belastbare Zahlen und Forschungen für das Jahr 2020 insgesamt noch nicht vorliegen und noch allerhand Forschung vonnöten sein wird, um die endgültigen Auswirkungen der Pandemie auf die menschliche Psyche festzustellen. Gleichwohl, so Dr. Diehl, lasse sich eine Zunahme von Ängsten feststellen: "Wir beobachten mehr Angstsymptomatiken, auch unabhängig von einer eventuellen psychiatrischen Grunderkrankung." Diehl erklärt aber auch, dass nicht plötzlich mehr Angstpatienten kämen. Das sei ohnehin nicht möglich, da die psychiatrische Abteilung vor und während der Pandemie gleichermaßen ausgelastet gewesen sei. Auch Wendling-Platz bemerkt bei ihren Patientinnen und Patienten Veränderungen durch die Lockdown-Bedingungen. So würden Menschen, die unter einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) leiden, den Lockdown sogar als angenehm empfinden: "Ich muss gar nicht begründen, warum ich Dinge vermeide, weil ich soll ja vermeiden. Viele empfinden das als eher angenehm, weil sie dadurch nicht mehr auffallen. Menschen mit einer Angststörung sagen dagegen: 'Je mehr ich jetzt nicht darf, desto stärker wird meine Angststörung, denn ich kann mich nicht mehr exponieren. Ich kann nicht mehr üben, ich kann nicht mehr ausprobieren, wie es ist, jemanden anzusprechen oder in ein Geschäft hineinzugehen'." Resultat sei eine Verstärkung der Angstsymptomatik und mögliche Rückschritte und Verzögerungen in der Therapie.

Lockdown-Hängepartie für die Psyche


Der erste Lockdown sei laut Georgia Wendling-Platz für die Menschen noch etwas ganz Neues gewesen. "Die Menschen haben mit viel Geduld reagiert und auch Mitgefühlt mit ihren Mitmenschen." Von vielen Menschen sei es außerdem positiv empfunden worden, dass es mehr Ruhe und weniger Stress im Alltag gab. "Man konnte im Sommer viel raus bei gutem Wetter. Dann gingen die Zahlen auch schnell wieder runter. Das war ein großer Erfolg für alle", so Wendling-Platz weiter. Der Winterlockdown hingegen zieht sich. Aktivitäten im Freien sind bei nasskaltem Wetter eine schlechte Alternative. Es wird schneller dunkel.



Nun geht der Lockdown bis Ende Januar in die Verlängerung. Spielt die Politik durch die dauerhafte Hängepartie mit der seelischen Gesundheit der Menschen? Diehl mahnt zur Demut: "Alles was ungewiss ist und sich ständig verändert schürt Ängste und auch Widerstände", meint der Chefarzt. Die verordneten Maßnahmen sollten aus seiner Sicht gerecht, einfach, verständlich, absehbar und planbar sein. "Aber das ist leicht von mir zu sagen, ich glaube schon, dass genau das der Ansatz der Politik ist, das sind auch Väter und Mütter und die haben Kinder und Verwandte. Aber da wir einfach Vieles noch nicht wussten und weiterhin nicht wissen ist es dann häufig leider doch notwendig relativ kurzfristig zu reagieren. Ich verstehe, dass man versucht noch mit geringeren Einschränkungen zu arbeiten. Andersrum war auch die Kritik da, warum ein kompletter Lockdown? Wir hatten auch Einschränkungen in der Behandlung, die Auswirkungen bekommen wir vielleicht auch in ein paar Jahren wirklich zu Gesicht, was das alles wirtschaftlich und seelisch bedeutet. Da bin ich auch nicht schlauer als die, die das hauptamtlich machen."


Dr. Alexander Diehl, Chefarzt der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik im städtischen Klinikum Braunschweig.
Dr. Alexander Diehl, Chefarzt der Klinik für Psychotherapie und Psychosomatik im städtischen Klinikum Braunschweig. Foto: Alexander Dontscheff



"Wir wünschen uns Kontrolle und Übersicht über die Gefahr, aber die haben wir einfach nicht. Deswegen haben wir Angst, auch über die wahre Bedrohung hinaus."

- Dr. Alexander Diehl, Klinikum Braunschweig



Dennoch lasse sich nicht verneinen, dass dieses Vorgehen viele unter großen Stress setze: "Immer wenn man denkt: 'okay, jetzt hab ich kapiert. Jetzt habe ich wieder so ein Gefühl von Kontrolle', ändert sich die Regel wieder. Das setzt unter Stress. Das ist ganz klar." Diehl fasst zusammen: "Wir wünschen uns Kontrolle und Übersicht über die Gefahr, aber die haben wir einfach nicht. Deswegen haben wir Angst, auch über die wahre Bedrohung hinaus." Wendling-Platz bekräftigt, dass klare und transparente Kommunikation der Schlüssel sei: "Das wird auch in Bezug auf die Impfung sehr wichtig werden, dass man gute Quellen zur Information hat. Nicht jeder ist gewillt, schwierige Studien durchzulesen die auf Fachchinesisch formuliert sind."

Klinikum setzt VR-Brillen für die Therapie ein


Mit VR Brillen können sich Patientinnen und Patienten der psychiatrischen Abteilung des Klinikums Braunschweig weiterhin ihren Ängsten stellen.
Mit VR Brillen können sich Patientinnen und Patienten der psychiatrischen Abteilung des Klinikums Braunschweig weiterhin ihren Ängsten stellen. Foto: dlohner/Pixabay



Die Angst hat Einfluss auf viele psychiatrische Grunderkrankungen. Neben Angststörungen und Depressionen können auch Psychosen, Schizophrenie und Bipolare Störungen durch die Pandemiesituation und den Lockdown verstärkt werden, denn auch die Pandemie gestalte sich laut Diehl schwierig: "Wichtige Bausteine für die psychiatrische Behandlung funktionieren nur mit massiven Einschränkungen. Dazu gehören Tagesstruktur, das Aufbauen von sozialen Kontakten und auch Freizeitaktivitäten. Wir versuchen das etwas zu kompensieren. Aber da gerät man schnell an Grenzen. Das geht bis hin zu virtuellem Training. Für Exposition müssen Sie nicht in die Straßenbahn gehen, sie können Exposition auch mit einer VR-Brille machen. Dafür haben wir jetzt die Voraussetzungen geschaffen, wir versuchen uns also auch anzupassen."

Videokonferenzen können reale Kontakte nicht ersetzen


Die Störung der Strukturen wirke sich aber letztendlich auf alle aus: "Es war vorher halt so, auch wenn es genervt hat, die Fahrt zur Arbeit, mich mit dem Nachbar auseinandersetzen oder in andere Gesprächsrunden, diese üblichen Routinen, der Wechsel zwischen aktiv sein und ruhen, dieser Wechsel ist letztlich gesund. Das Gehirn braucht diese Struktur. Und diese Störung der üblichen Tages- und Wochenstruktur hat einen großen Einfluss auf die Menschen." Aus Sicht des Chefarztes Diehl könnten virtuelle Konferenzen das auf Dauer auch nur begrenzt ersetzen: "Aus psychiatrischer Sicht sind Homeoffice und Videokonferenzen besser als nichts. Aber es wird nie den direkten Kontakt ersetzen können und auch nie das erreichen können, was geleistet wird, wenn Leute wirklich zusammenkommen." Diese Kontakte seien wichtig für die Psychohygiene, auch wenn es mit anstrengender Arbeit verbunden ist.



Eine häufige Gefahr sei der schleichende Übergang zwischen Homeoffice und Privatem. "Es muss klare Grenzen geben. Ich setz mich in meine Arbeitsecke und bin dann auch wirklich nicht mehr ansprechbar und bringe auch nicht kurz den Müll raus. Das muss strikt getrennt werden", empfiehlt der Psychiater.

Sorge vor Spätfolgen


"Wir merken, dass sich Krisensituationen zuspitzen, dass suizidale Krisen geschehen, die sonst vielleicht verhinderbar gewesen wären. Und das wird sich auch noch fortsetzen."

- Dr. Alexander Diehl, Klinikum Braunschweig



Mit dem Ende der Pandemie könnten die Auswirkungen auf die Menschen insgesamt erst richtig losgehen. Das zumindest befürchtet Dr. Alexander Diehl: "Sowas wie ein grundsätzliches Misstrauen in soziale Kontakte, die ja im Moment gefährlich sind und das bekommen wir auch vermittelt. Dass sich diese Angst über die Pandemie hinaus fortsetzt und dass man sich dann mehr zurückzieht und weniger Kontakte sucht, das bereitet mir Sorgen." Hinzu komme, dass in der Medizin zurzeit nicht alle Angebote zur Verfügung stünden. "Einige Patienten haben versucht, den Weg ins Krankenhaus zu vermeiden. Und da merken wir jetzt schon, dass mancher Krankheitsverlauf deutlich ungünstiger wird. Wir merken, dass sich Krisensituationen zuspitzen, dass suizidale Krisen geschehen, die sonst vielleicht verhinderbar gewesen wären. Und das wird sich auch noch fortsetzen."

Der Kampf gegen die Einsamkeit


Pathologisieren sollte man Angst und Sorgen nicht, meint Dr. Diehl: "Das Erleben von Angst oder eine bedrückte Stimmung ist nicht per se krank. Die Situation ist ja real bedrohlich, das kann man nicht wegbehandeln oder schön reden." Es gelte nun, aktiv neue Formen der Kommunikation zu finden. "Ich kann nicht die Arme verschränken wie bei einer Grippe und nach drei Wochen geht es weiter wie vorher. Ich muss Alternativen schaffen. Da ist Flexibilität und Anpassungsfähigkeit gefordert. Ich kann nicht sagen 'sagt Bescheid wenn es wieder besser ist', weil bis dahin geht es mir schlecht. Und zwar so richtig." Wendling-Platz rät: "Ich denke es ist wichtig, dass Menschen auch Beratung aufsuchen, Beratung beim sozialpsychiatrischen Dienst, bei den niedergelassenen Ärzten, bei uns in der Klinik. Es sind ja oft nur kleine Schritte die helfen können, aus der Isolation und der Einsamkeit rauszukommen." Auch in der Klinik Dr. Fontheim sei rund um die Uhr ein Arzt zugegen, der auch akut mit Rat helfen könne, wenn es kriselt.


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