Das Geheimnis, warum Hollands Kinder gern zur Schule gehen


Gruppenarbeit mit und ohne Laptop hat an Hollands Schulen Priorität. Quelle: Focus, Petra Apfel/FOL
Gruppenarbeit mit und ohne Laptop hat an Hollands Schulen Priorität. Quelle: Focus, Petra Apfel/FOL | Foto: Focus, Petra Apfel/FOL

Marode Schulen, Unterrichtsausfall, frustrierte Lehrer, gestresste Kinder: Das deutsche Schulsystem steckt in der Krise – anders in den Niederlanden. FOCUS Online-Reporterin Petra Apfel hat sich in Holland umgesehen und gelernt: Erst kommt die Selbstsicherheit, dann die Leistung. Das klappt, weil schon an der Grundschule individuelle Förderung im Mittelpunkt steht.


Das holländische Schulsystem bringt offenbar erfolgreiche und glückliche Schüler hervor: Laut internationalem Schülervergleich der OECD liegen die Niederlande, was die Leistungen in Lesen und Mathe angeht, zwar etwa mit Deutschland gleichauf. Doch was die Kompetenzen von Schülern angeht, den Computer zum Lernen und Arbeiten zu nutzen, sind die Niederlande uns weit voraus.

Auch die Lehrer sind wesentlich aufgeschlossener, wenn es darum geht, digitale Technik im Unterricht zu nutzen und sich auch selber auf den neusten Stand der Technologie zu bringen. Zudem ist die Zufriedenheit bei holländischen Schülern deutlich höher als bei deutschen, Schulangst weitgehend unbekannt.

FOCUS Online hat sich angeschaut, wie unsere Nachbarn das mit dem angstfreien, digitalen Lernen besser hinbekommen als wir. Und zwar da, wo das Fundament für schulischen Erfolg gelegt wird: an der Grundschule. Wir haben eine Woche lang „Basisscholen“ in der Stadt und auf dem Land besucht.

Ein Curriculum, 100 Wege zum Schulerfolg


Eine der wichtigsten Erkenntnisse dabei: Im Gegensatz zum behäbigen Ozeandampfer Deutschland mit seiner 16-fachen Bildungshoheit der Länder bewegt sich das niederländische Schulsystem wie ein Schnellboot: Das Bildungsministerium gibt das landesweite Curriculum (den Lehrplan) für alle Grundschulen und die einheitliche Abschlussprüfung vor. Und jede Schule entscheidet selbst, wie sie diese Lernziele erreichen will. Das lässt viel Raum für innovative Methoden – Scheitern inklusive, wie sich beim Modell des voll digitalisierten Lernens nach Schülerlust gezeigt hat. (Über Erfolg und Misserfolg berichten Teil 2 und 3 der großen „Holland-Reportage“.)

Außerdem: In einem Alter, in dem in Deutschland bereits (Noten-)Druck herrscht und Kopfschmerzen fast zu einer Kinderkrankheit geworden sind, herrscht an den Grundschulen in den Niederlanden ziemliche Entspanntheit. Bildungsforscherin Guuske Ledoux staunt in ihrem Büro am Kohnstamm-Institut der Uni Amsterdam darüber, dass Kopfschmerzen für zwei Drittel aller deutschen Schüler zum Alltag gehören: „Stressbedingte Kopfschmerzen? Das kann ich mir allenfalls in der höheren Schule vorstellen, aber nicht bei unseren Grundschülern. Sie zählen zu den glücklichsten Schülern der Welt.“

Ist das vielleicht schon das ganze Geheimnis, warum holländische Schulen als vorbildlich gelten: Kinder, die gern zur Schule gehen?

 Mittagspause in der Binckhorst-Grundschule - die Lunchbox bringt jedes Kind morgens mit. Quelle: Focus, Petra Apfel/FOL
Mittagspause in der Binckhorst-Grundschule - die Lunchbox bringt jedes Kind morgens mit. Quelle: Focus, Petra Apfel/FOL Foto: Focus, Petra Apfel/FOL


Grundschüler haben keine Hausaufgaben


Unterricht ist für die 1,2 Millionen holländischen Grundschüler in erster Linie unterstützte Selbsterfahrung. Die Lehrer begegnen ihnen als wohlwollende „Meester“, die man duzen und immer alles fragen darf. Und wenn die Kinder zwischen 14.30 und 15.00 nach Hause gehen, schleppen sie keine schweren Ranzen mit, weil Bücher, Mappen und Laptops in der Schule bleiben. Hausaufgaben gibt es ohnehin nicht – zumindest in den acht Jahren „Basisschool“, die jedes holländisches Kind zwischen vier und zwölf Jahren durchläuft.

In den Niederlanden sind nur etwa ein Drittel aller 6500 Grundschulen staatlich. Die große Mehrheit der Schulen haben konfessionelle Stiftungen als Träger, überwiegend protestantisch oder katholisch. Das hat historische Ursprünge, die bis ins 18. Jahrhundert zurückreichen. Religion spielt an den allermeisten Schulen jedoch kaum eine Rolle.

Eltern wählen die Schule, die ihnen gefällt


An welche Grundschule ihr Kind geht, bestimmen Eltern in Holland selbst, unabhängig vom Wohngebiet. In einigen Großstädten, etwa in Amsterdam, können sie allerdings nur noch eine Wunschliste beim Schulamt einreichen. Wohin das Kind letztlich kommt, entscheidet eine Lotterie. Auf diese Weise wollen die Behörden sogenannte „schwarze Schulen“ verhindern, in denen sich nur noch die sozial Schwachen zusammenfinden.

Finanziert werden sämtliche Schulen vom Staat. Der Bildungsetat gehört zu den größten Posten im niederländischen Staatshaushalt. Dafür sind die Grundschulen der Niederlande meist sehr gut ausgestattet, gerade was digitales Equipment angeht. Ilona de Ruijter vom Bildungsministerium erklärt: „Vom Ministerium gibt’s Geld für alles, was die Bildung betrifft, von den Gehältern über das Lehrmaterial bis zu Stromrechnung und Internetanschluss. Alle Posten fließen ins Gesamtbudget der Schule, die das Geld verwaltet und nach eigenem Ermessen ausgeben kann.“

 Besprechung vor dem Schulbeginn - die Lehrer von Unit 7 der Laterna Magica Grundschule in Amsterdam. Quelle: Focus, Petra Apfel/FOL
Besprechung vor dem Schulbeginn - die Lehrer von Unit 7 der Laterna Magica Grundschule in Amsterdam. Quelle: Focus, Petra Apfel/FOL Foto: Focus, Petra Apfel/FOL


Die Schule entscheidet, der Staat bezahlt


Arjen Holl vom Amsterdamer Schulbuchverlag „Boom Uitgevers“ ergänzt: „Die Schulen sind sehr frei in ihren Entscheidungen, wie sie ihre finanziellen Mittel einsetzen. Das Ministerium kontrolliert nicht, ob damit neue Schulbücher gekauft werden, Laptops finanziert oder eine zusätzliche Lehrkraft eingestellt wird.“

Eltern bezahlen, vor allem an den privat geführten Schulen, einen jährlichen Beitrag von 60 bis 80 Euro für außerschulische Aktivitäten, etwa Exkursionen. „Manche der besonders begehrten Schulen erwarten allerdings auch eine zusätzliche ‚freiwillige‘ Spende von Eltern“, sagt eine Mutter, deren Tochter an eine dieser „besseren“ Schulen geht. Davon könnten dann schmückende Extras für die Schule bezahlt werden.

„Cito“ – das entscheidende Wort für die Schulkarriere


Die Wahl der Unterrichtsmethoden steht jeder Schule frei. Die Inhalte sind allerdings in staatlichen Richtlinien festgelegt. Sie geben vor, welche Kenntnisse am Ende der achtjährigen Grundschule jedes Kind erworben haben muss, oder auch, dass zu den beiden letzten Basisschool-Jahren verpflichtend der Englischunterricht gehört. An vielen Grundschulen beginnt er nach eigenem Ermessen schon früher.

Am Ende der Grundschulzeit steht der landesweit verbindliche „Cito“-Test. Der entscheidet neben einer Einstufung der Schule nicht nur über die weitere Schulkarriere der Kinder, sondern auch über die Qualitätseinstufung der Schule. Sackt eine Einrichtung im Ranking ab, steht bald die staatliche Kontrollbehörde vor der Tür. Die Inspektoren bieten Problemlösungen an, sie können aber auch die Leitung der Schule vorübergehend übernehmen.

Lehrer als Beamte? Nicht in Holland


In Holland gibt es weder verbeamtete Lehrer, noch werden sie der Schule von einer Behörde zugeteilt. Lehrer können sich im ganzen Land bewerben und die Schulleitung stellt ein, wen sie für geeignet hält. Anders als in Deutschland wird eine Schule einen schlechten Lehrer auch schnell wieder los. Und: Wer in Holland Lehrer wird, ist von Anfang an in den Schulalltag eingebunden. Praxis und Theorie gehen beim vierjährigen Studium Hand in Hand. Bildungsforscherin Guuske Ledoux sagt: „Lehrer haben bei uns kein schlechtes Image: Sie arbeiten viel und werden nicht besonders gut bezahlt.“

Unterschiedlicher Lernstoff je nach Fähigkeit


An holländischen Schulen finden mehr Lehrerkonferenzen und Besprechungen – auch mit allen Eltern – statt als in Deutschland. Das liegt auch daran, dass beim Nachbarn viel öfter etwas Neues ausprobiert wird. Derzeit liegt das fächerübergreifende projektbezogene Arbeiten in Kleingruppen im Trend.

Und da sich der Unterricht sehr am Talent der einzelnen Schüler orientiert, ist er arbeitsaufwendiger als Frontalunterricht für alle. Die Lerninhalte werden in drei Ebenen aufbereitet: für die Durchschnittsschüler, die besonders guten und diejenigen, die sich schwer tun. „Am Ende ist nur wichtig, dass jedes Kind die Grundschule zum richtigen Zeitpunkt und mit der richtigen Empfehlung für die nächste Stufe verlässt“, sagt Claudia Prins, Grundschullehrerin in Amsterdam.

Von den Niederlanden lernen


10 Dinge, die an Hollands Schulen besser laufen als bei uns

Um fit für die Zukunft zu sein, muss Deutschland in Bildung investieren – darüber sind sich alle einig. Dafür könnte es sich bei anderen Ländern einiges abschauen. Unsere holländischen Nachbarn haben an den Grundschulen bereits Dinge umgesetzt, die auch viele deutsche Bildungsexperten als nötige Reformen einfordern.

  1. Die Grundschule beginnt früh, schon ab vier Jahren. Die Differenzierung erfolgt erst nach acht Jahren gemeinsamen Lernens mit zwölf.

  2. Eltern haben von Anfang an freie Schulwahl, unabhängig von der Adresse.

  3. Der Unterricht beginnt überall erst um 8.30 und endet um 14.30 oder 15.00 Uhr. Hausaufgaben gibt es nicht.

  4. Fast alle Schulen werden vom Staat finanziert, auch die der privaten Träger.

  5. Jeder Schule steht es frei, nach welcher Methode sie unterrichten will.

  6. Das Bildungsministerium gibt landesweit einheitliche Lernziele sowie die Tests vor, welche diese abrufen. Der wichtigste „Cito“-Test erfolgt am Ende der Grundschulzeit.

  7. Nicht allein die Lehrer entscheiden über die weitere Schullaufbahn, sondern deren Beurteilung plus der Cito-Test.

  8. Es gibt keine Lehrer-Beamten. Lehrkräfte bewerben sich, wo sie wollen. Schulen stellen ein, wen sie wollen.

  9. Schulpraxis gehört vom ersten Tag an zur Lehrerausbildung.

  10. Holland hat landesweit die perfekte Infrastruktur für digitales Lernen. Die Schulen sind überwiegend mit der nötigen Hard- und Software ausgestattet. Lehrer setzen sie auch ein.



14 Länder, 14 Reporter


Lösungen, die für unsere Gesellschaft Vorbild sein können

regionalHeute.de Partner FOCUS Online startet eine neue konstruktive Reportage-Serie. Das Ziel: Perspektiven für Deutschlands soziale und gesellschaftliche Zukunft aufzeigen. Was machen andere Länder besser und was kann Deutschland von internationalen Vorbildern lernen? Um Antworten darauf zu finden, reisen 14 FOCUS-Online-Reporter in 14 verschiedene Länder.


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