Helmstedt. Bis zum 24. Februar 2022 führte die Familie von Julia und Daria Zhuravska ein Leben, wie es in jeder europäischen Großstadt stattfinden könnte. Arbeit, Familie, Hobbys, mit Netflix, Instagram und allem anderen, das auch zu unserem Alltag gehört. Dann aber kam der Krieg. Mitten in der Nacht wurden sie von russischen Bomben aus dem Schlaf gerissen, mussten mit Sack und Pack ihre Heimatstadt Kiew verlassen. Jetzt sind sie in einem Dorf im Landkreis Helmstedt angekommen. Frauen, Kinder und Alte jedenfalls. Die jungen erwachsenen Männer blieben in der Heimat und warten darauf, einberufen zu werden. regionalHeute.de hat mit der Familie gesprochen. Über den Krieg, die Flucht und die Ankunft in Deutschland.
Zu Anfang wollten sie die Ukraine gar nicht verlassen, erklären Julia und Daria Zhuravska im Gespräch mit regionalHeute.de. Als sie sich aus ihrer Heimatstadt Kiew aufgemacht hatten, war das Ziel zunächst das Land gewesen, als die Bomben auch hier fielen, die Westukraine. Lviv, das alte Lemberg, um genau zu sein. In ihren sechs Autos mit 18 Menschen, drei Katzen, einem Hund und so viel Gepäck, wie sie eben tragen konnten, hatten sie sich auf den Weg gemacht. Doch egal wie weit sie sich von Kiew entfernten, das Donnern von Geschützen war jeden Tag zu hören. Der Familie wurde klar, dass sie nicht in der Ukraine bleiben konnten.
Der Krieg ist überall
In einem modernen Krieg gibt es kaum Verstecke für Zivilisten. Im Zeitalter von Drohnen, Helikoptern und Boden-Boden-Raketen gibt es keine Orte, die nicht von feindlichen Waffen erreicht werden können. Eine bittere Lektion, die auch die Familien Zhuravska und Konovalchuk lernen mussten. Der Entschluss, nicht in Lviv haltzumachen, fiel an einem Abend, an dem die kleine Kolonne ihre Fahrt Richtung Westen unterbrach, um über die weitere Route zu sprechen. Sie waren bereits seit Tagen unterwegs, hatten in den überfüllten Autos oder auf dem Fußboden verlassener Hütten geschlafen, immer abseits von Hauptstraßen und Autobahnen. Aber als sie an diesem Abend zusammensaßen und sprachen, hörten sie immer noch den Donner der Kanonen, erzählt Daria Zhuravska. Da wurde ihnen klar, dass sie nirgendwo in diesem Land sicher sein würden. Sie und besonders die mitreisenden Kinder nicht. Weder der 15-jährige Ilya, noch die 16-jährige Maria und auch die 7-jährige Anna nicht. Sie entschlossen sich, zunächst nach Polen zu reisen, auf sicheres NATO-Territorium. Von da aus weiter nach Deutschland, in den Landkreis Helmstedt. Sascha Zhuravska, Julias Mann und Darias Vater, hatte hier schon vor zwei Jahren ein kleines Haus gekauft. Ein sicherer Hafen, der allerdings noch so weit entfernt schien.
Zugleich war klar, dass die Männer in der Ukraine bleiben mussten. Der ukrainische Präsident Volodomir Selenskyy hatte mittlerweile die Mobilmachung verfügt. Männern zwischen 18 und 60 war es nun verboten, auszureisen. Sie sollten sich für den Krieg bereithalten. Zur Grenze wollten sie ihre Frauen und Kinder trotzdem bringen. Komme was wolle. Sascha hatte bereits Kontakt mit Freunden in Deutschland aufgenommen, die seiner Familie die Ankunft erleichtern sollten. Ein Plan stand also. Nur die Umsetzung gestaltete sich als schwierig. Die Grenze nach Polen war zu diesem Zeitpunkt bereits vollkommen überlaufen.
Die Alten fliehen mit dem Zug
Zugleich waren der 89-jährige Mykola Yalyzhko und seine 76-jährige Lebensgefährtin Ludmilla Fritiofenko, Julias Mutter, in Kiew geblieben. Für Mykola stand fest, dass er bleiben wollte. Einen Krieg hatte er schon überlebt. Damals hatte ihn keine Bombe getroffen, warum sollte es heute anders sein? Und ohnehin, in ihrem Alter, wohin sollten die beiden Rentner schon noch gehen? Sie hatten ihr Leben in Kiew verbracht, hatten Verantwortung getragen. Zu Zeiten der Sowjetunion hatte Ludmilla als Managerin gearbeitet, Mykola hatte ein Hotel geleitet und war später Vorsitzender des Roten Kreuzes in Kiew gewesen. Sie gehörten also zur Hauptstadt und die auch irgendwie zu ihnen. Und doch machte sich die Familie Sorgen. Julia und ihre Schwester Iryna waren immerhin schon auf der Flucht, die Enkel und Urenkel ebenfalls. Oma und Opa sollten nicht im Ungewissen zurückgelassen werden. Letztlich ließen sie sich doch überreden, die Stadt zu verlassen und der Familie nach Deutschland zu folgen.
Eine Autofahrt kam aber nicht mehr infrage. Das Alter. Stunden und Tage im Auto zu verbringen, dazu noch auf Nebenstraßen, womöglich zwischen die Fronten zu geraten, konnte den beiden nicht mehr zugemutet werden. Die Wahl fiel also auf den Zug. Zu diesem Zeitpunkt evakuierte die ukrainische Staatsbahn noch Menschen aus der Stadt, allerdings vornehmlich Mütter mit kleinen Kindern. Für Senioren war kein Platz vorgesehen. Das Paar musste also ausharren und hoffen. Zwei Menschen, die immer ihr Schicksal selbst in der Hand hatten, waren plötzlich ausgeliefert. Massen von Menschen drängten sich auf den Bahnsteigen, in der Hoffnung in irgendeinem Zug noch einen Platz zu ergattern. Tatsächlich hatte das Paar irgendwann Glück und wurde vorgelassen. Mit 3.000 Personen an Bord machte sich der Zug auf nach Westen, Richtung Lviv. Ausgelegt war er für 500 Mitfahrer.
Lachen gegen den Wahnsinn des Krieges
Unterhält man sich mit den Frauen, fällt auf, dass sie viel lachen, trotz allem. Es sei ein Weg, erzählen sie, positiv zu bleiben und sich nicht der Verzweiflung hinzugeben. Ihnen sei natürlich bewusst gewesen, erzählt Daria Zhuravska, dass es furchtbar gewesen sei, überall um sie herum. Aber immerhin hätten sie noch sich gehabt, die Familie. Kleine Momente, in denen sie lachen konnten, halfen ihnen das Leid um sie herum kurz zu vergessen. Ähnliches berichten auch Mykola und Ludmilla. Zwölf Stunden hätten die beiden im Zug allein in der Ukraine verbracht, stehend. An Schlaf war kaum zu denken, der Platz dafür war gar nicht da. Doch zwischen all dem Leid und der Angst war plötzlich eine Katze verschwunden, die sich irgendwo im Zug versteckt hatte. Hunderte Menschen waren plötzlich auf der Suche nach einem einzigen Vierbeiner. Nach einiger Zeit tauchte die Katze wieder auf, unversehrt, und wurde mit ihren Besitzern vereint. Die Freude war groß, der Krieg kurz vergessen.
Doch ganz lässt er sich nie ausblenden. Als wir mit der Familie sprechen, fliegt ein Hubschrauber über das Haus. Mitten im sicheren Deutschland schlägt die gelöste Stimmung plötzlich um. Die Anspannung aller Anwesenden ist spürbar. Als das Rotorengeräusch außer Hörweite ist, legt sie sich zwar nach einigen Sekunden wieder. Die Familie schweigt. Bereits zuvor waren Tränen geflossen, als die Frauen von der Flucht erzählten. Und dabei, so betonen sie immer wieder, sei ihr Schicksal sehr viel leichter als das vieler anderer, die später geflohen seien. Sicher, auch sie hätten Tote im Bekanntenkreis zu beklagen. Aber immerhin keine direkten Verwandten. Leichen und Verletzte hätten sie auf ihrer Route auch noch nicht gesehen. Das sei der Vorteil ihrer frühen Flucht gewesen: Die Russen waren noch weit genug von Kiew weg. Die Gefechte auf dem Boden seien zwar zu hören gewesen, in Sichtweite waren sie aber noch nicht. Heute ist der Krieg viel weiter im Landesinneren angekommen. Die Flucht ist jetzt, nur wenige Wochen später, eine sehr viel schwerere.
Über Ungarn und die Slowakei nach Deutschland
Trotzdem kamen sie nicht einfach so über die polnische Grenze. Als sie flohen, mussten Geflüchtete dort bereits Stunden um Stunden an den Grenzübergängen anstehen, heute, nur drei Wochen später, kann es Tage dauern, bis man ins sichere Polen kommt. Ähnliche Bilder sieht man aus Rumänien und der Slowakei. Ungarn hat seine Grenzen zur Ukraine heute ganz geschlossen. Zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht. Sie machten sich also von der polnischen Grenzen auf nach Süden, Richtung Ungarn. Das bedeutete weitere Tage und Stunden auf der Straße, vorbei an Checkpoints und Militärkonvois.
Zugleich kam die Trennung der Familie immer näher. Schließlich, endlich an der Grenze angekommen, blieben die Männer zurück, um auf ihre Einberufung zu warten. Die Frauen und Kinder konnten in die sichere EU. Von Ungarn aus fuhren sie dann über die Slowakei und Tschechien nach Deutschland. An Unterkünfte war kaum zu kommen, sie schliefen meist in den Autos, oft gerade zwei Stunden pro Nacht. Vollkommen erschöpft kamen sie schließlich in Deutschland an, an Saschas Haus. Von der Metropole Kiew waren sie in einen kleinen Ort im Landkreis Helmstedt geflohen. Aber sie waren sicher.
Dort angekommen wurden sie von Friederike D. begrüßt, einer guten Freundin von Sascha. Sie hatte das Haus hergerichtet, die Betten bezogen und das Haus so ausgestattet, dass die Familie erst einmal alles zum Leben hatte. Die Frauen und Kinder konnten also zur Ruhe kommen. Das erste Mal seit Wochen. Einige Tage später kamen auch Mykola und Ludmilla in Deutschland an, am Berliner Hauptbahnhof. Viktoria holte die beiden ab, mitten in der Nacht. Um 5 Uhr morgens war die Familie schließlich wieder vereint. Nur die wehrfähigen Männer fehlten. Wann und ob sie sie wiedersehen, steht weiter in den Sternen.
Lesen Sie im nächsten Teil: Die Aufnahme in Deutschland und der Kontakt an die Front
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