Helmstedt. Bis zum 24. Februar 2022 führte die Familie von Julia und Daria Zhuravska ein Leben, wie es in jeder europäischen Großstadt stattfinden könnte. Arbeit, Familie, Hobbys, mit Netflix, Instagram und allem anderen, das auch zu unserem Alltag gehört. Dann aber kam der Krieg. Mitten in der Nacht wurden sie von russischen Bomben aus dem Schlaf gerissen, mussten mit Sack und Pack ihre Heimatstadt Kiew verlassen. Jetzt sind sie in einem Dorf im Landkreis Helmstedt angekommen. Frauen, Kinder und Alte jedenfalls. Die jungen erwachsenen Männer blieben in der Heimat und warten darauf, einberufen zu werden. regionalHeute.de hat mit der Familie gesprochen. Über den Krieg, die Flucht und die Ankunft in Deutschland.
Dass er mit fast 90 Jahren noch einmal flüchten müsste, konnte sich Mykola Yalyzhko nicht vorstellen. Er ist das einzige Familienmitglied, das jemals einen Krieg miterleben musste, als im Sommer 1941 die Deutschen die Sowjetunion überfielen. Damals war er neun Jahre alt. Als er 13 war, war der Krieg wieder vorbei. Niemals hätte er sich vorstellen können, dass der Krieg wiederkäme, dazu noch aus Russland, vom angeblichen Brudervolk. Und so floh er als einziger erwachsener Mann der Familie aus seiner Heimat. Ausgerechnet nach Deutschland, das Land, das den ersten Krieg, den er miterleben musste, vom Zaun gebrochen hatte. Nun sitzt er mit seiner Freundin Ludmilla, seinen Töchtern und den Enkelkindern in einem Haus im Landkreis Helmstedt. Ziemlich genau 1.500 Kilometer von seinem Zuhause entfernt.
Auf einmal ist alles anders
In der ersten Nacht, in der die Bomben auf Kiew fielen, war Daria Zhuravska, Mykolas Enkelin, gar nicht so bewusst, wovon sie eigentlich um 5 Uhr morgens aufgewacht war. Die 27-Jährige stand auf, holte sich ein Glas Wasser und wollte sich wieder schlafen legen. Aber mittlerweile war auch ihr Freund wach - er wusste es bereits. Der Krieg hatte angefangen, russische Verbände hatten die Grenze überquert, die großen Städte wurden bombardiert. Auch Kiew. Nur einen Monat zuvor hatte sie einen neuen Job in einer IT-Firma bekommen, verstand sich gut mit ihren Kollegen. In nur wenigen Stunden war das nichts mehr wert.
Daria Zhuravska(links) und ihre Schwester Maria in ihrem neuen Zuhause. In Kiew arbeitete Daria in einer IT-Firma, erst seit einigen Wochen. Dann mussten sie fliehen. Foto: Niklas Eppert
Irgendwo anders in der Stadt wohnten Darias Mutter Julia und ihre Tante Viktoria Konovalchuk im selben Haus. Morgens um 4:30 Uhr habe Julia ihre Schwester und deren Mann geweckt, Sturm geklingelt mitten in der Nacht. Viktoria, oder Vika, wie die Familie sie nennt, habe erst gar nicht aufmachen wollen. Das müsse ein Scherz sein oder ein Irrtum. Erst später hätten sie realisiert, dass die Bilder in den Medien echt waren. Dabei hatten sie bereits im Sommer 2021 Vorbereitungen getroffen, Taschen gepackt und einen Treffpunkt festgelegt. Damals sei der Krieg noch so weit weg gewesen.
Ein fernes Grollen
Der Krieg in der Ukraine läuft eigentlich bereits seit 2014. Damals hatten nicht markierte russische Truppen die Krim besetzt, nach einem umstrittenen und von der westlichen Welt nicht anerkannten Referendum annektierte die Russische Föderation die Halbinsel. Kurze Zeit später erklärten sich die beiden Regionen Donezk und Luhansk zu unabhängigen Volksrepubliken, die mal mehr und mal weniger offen von Russland unterstützt wurden. Aber dieser Krieg sei weit weg gewesen, erzählt Daria. Sicher kannte man Menschen, die aus dem Osten des Landes kamen, aber man hatte sich irgendwie mit der Situation arrangiert. Viel geschah ohnehin nicht, für den Durchschnittsmenschen ging das Leben bis zum 24. Februar normal seinen Lauf.
Julia Zhuravska hatte ihr eigenes kleines Unternehmen in Kiew, tanzte gern und machte Yoga. Heute ist sie die einzige in der Familie, die Deutsch spricht. Damit will sie anderen Ukrainern in der Region helfen. Foto: Niklas Eppert
Als Daria am Morgen dieses Tages in den Supermarkt wollte, hätten sich bereits zur Öffnung lange Schlangen gebildet. Und doch habe es immer noch Menschen gegeben, die nicht hätten einsehen wollen, was passierte. Eine Kassiererin habe ihr erklärt, dass sie sich keine Sorgen machen solle, so schlimm werde es schon nicht. Doch auf den Straßen waren bereits Soldaten und Schützenpanzer, die Stadt wurde befestigt. Die Familie floh also. Erst einmal Richtung Westen, Lviv. Die Ukraine zu verlassen, kam da für sie noch nicht infrage. Das änderte sich erst auf dem Weg.
Die "leichte" Flucht
Die Familie entschied sich früh Kiew zu verlassen. Für sie ein Glücksfall, wie sie im Gespräch mit regionalHeute.de, erzählen. Immer wieder bezeichnen sie ihre Flucht als "leicht", andere hätten es viel schwerer, gerade jetzt, wo der Krieg immer tiefer ins Landesinnere rückt. Mit sechs Autos seien sie losgefahren, mit Gepäck, 18 Menschen, drei Katzen und einem Hund. Zuerst hätten sie Unterschlupf in einem Haus am Stadtrand von Kiew gefunden, wo sie im Keller geschlafen hätten. An diesem Abend übermannte Viktoria die Situation, wie sie erzählt. Von einem Moment auf den anderen konnte sie ihre Beine nicht mehr bewegen. Sie geriet in Panik, weinte. Ihre kleine Tochter Maria sah mit an, wie sie von den Männern aus dem Keller getragen wurde. Dabei war sie körperlich unverletzt. Es waren Angst und Stress, die jetzt ihren Tribut forderten.
Viktoria Konovalchuk hat früher in einer Bank gearbeitet, entschied sich nach der Geburt ihrer Tochter Anna aber zu Hause zu bleiben. Sie hat es gemeinsam mit Anna nach Deutschland geschafft. Foto: Niklas Eppert
Doch die Flucht musste weitergehen, immer weiter nach Westen. Vorbei an Checkpoints, abseits der Autobahnen und Hauptstraßen. Damals waren auch die Männer noch dabei, unter anderem Sascha, Julia Zhuravska Ehemann. Er wohnte vor dem Krieg im Landkreis Helmstedt, war selbständiger Handwerker und hatte vor zwei Jahren ein kleines Haus gekauft. Er war in die Ukraine zurückgekehrt, um seine Familie herauszuholen. Immer wieder besprachen sie, wo die Reise eigentlich hingehen sollte. Das ursprüngliche Ziel war Lviv gewesen, wo auch die Frauen sich hätten freiwillig melden wollen. Sie dachten, dort wären sie sicher, könnten im Westen des Landes zur Ruhe kommen und dann sehen, was sie selbst machen könnten. Doch überall wo sie anhielten waren Kampfjets zu hören, Hubschrauber und Granateneinschläge. Die Kämpfe würden sie verfolgen, erzählen die Frauen, auch bis nach Lviv, das sei ihnen mit jedem Tag klarer geworden. Zum Wohle der Kinder entschieden sie sich also, die Grenze nach Polen zu überqueren. Die Männer, auch das war allen klar, mussten bleiben.
Lesen Sie im zweiten Teil in der kommenden Woche "Flucht in die Region: Der lange Weg nach Deutschland"
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