Hannover/Braunschweig. Der niedersächsische Verfassungsschutz hat am heutigen Donnerstag seinen Verfassungsschutzbericht für das Jahr 2020 vorgestellt. Während sich der Rechtsextremismus sich dynamisch verändert habe, sei die Gewaltbereitschaft der linksextremen Szene gleichbleibend hoch geblieben. Beim Themenkomplex Salafismus sei es zu einer Stagnation gekommen. Grund dafür sei der Mangel an charismatischen Führungspersönlichkeiten. Diese Lücke versuche beispielsweise die DMG in Braunschweig zu schließen. Im Verlauf der Pressekonferenz wird deutlich: Braunschweig ist nach wie vor Zentrum der salafistischen und rechtsextremen Szene.
"Der Rechtsextremismus stellt nach wie vor für unsere Sicherheitsbehörden die größte Herausforderung dar. Die Entgrenzung oder die Vermischung von rechtsextremistischen oder rechtspopulistischen Positionen erschließt dabei neues Personenpotenzial", eröffnet Pistorius die Pressekonferenz. Von der Partei "Die Rechte" seien im Jahr 2020 "mit Abstand", wie der Innenminister betont, die meisten öffentlichkeitswirksamen Tätigkeiten in Niedersachsen ausgegangen: "Überwiegend in Braunschweig und Einbeck beteiligen sich auch Angehörige der neonazistischen Szene in Niedersachsen daran", führt Pistorius dazu aus und ergänzt: "Allerdings zeigten die erfolglosen Versuche den Corona-Skeptizismus in Teilen der Bevölkerung mit Kundgebungen aufzugreifen, dass die Partei 'die Rechte' mit ihren vergangenheitsbezogenen, geschichtsrevisionistischen Themen nicht anschlussfähig zu sein scheint an das bürgerliche Spektrum."
Der Flügel, die Rechtsextremen und Braunschweig
"Die bereits in den vergangenen Jahren beschriebene Struktur- und Mobilisierungsschwäche der NPD verschärfte sich unter Coronabedignungen. Die Jugendorganisation der NPD, die jungen Nationalisten, haben ihren Aktivitätsschwerpunkt in Braunschweig wo sie mit Flugblattaktionen und zwei - allerdings Resonanzlosen - Kundgebungen gegen den vermeintlichen Corona-Wahnsinn öffentliche Aufmerksamkeit zu erzielen versuchten", erklärt Pistorius weiter. Im südlichen und südöstlichen Niedersachsen seien Rechtsextreme und Neonazis in losen Netzwerken noch am aktivsten. Dennoch beobachtet der Verfassungsschutz einen Rückgang im Vergleich zum Vorjahr von 260 Personen in der Neonazistischen Szene auf nur noch 240 im Jahr 2020. Das Rechsextremismuspotenzial insgesamt habe sich jedoch von 1.160 Bekannten Akteuren auf 1.750 Personen gesteigert.
Das rechtsextremistische Personenpotenzial in Niedersachsen sei durch die Aufnahme der Beobachtung der „Jungen Alternative“ und des rechtsnationalen "Flügels", der internen Strömung der Partei Alternative für Deutschland (AfD), erheblich gewachsen. Trotz der formellen Auflösung des "Flügels" Ende April 2020 hätten dessen agierende Mitglieder an Einfluss gewonnen. Darauf angesprochen, ob es eine Verbindung zwischen dem Einfluss des Flügels und der Tatsache gibt, dass immer wieder Braunschweig als Tagungsort des niedersächsischen AfD-Landesverbandes ausgewählt wird, antwortet Pistorius:
"Jeder geht gerne dahin, wo er glaubt im Kreise Gleichgesinnter zu sein oder mehr Gleichgesinnte zu haben als anderswo. Diese Frage müsste man eigentlich an die AfD richten. Ob man da eine belastbare Antwort bekäme, wage ich zu bezweifeln. Für die Mutmaßung gibt es zumindest Anlass."
Querdenker und neue extremistische Formate
Infolge der staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie bildeten sich laut dem Verfassungsschutzbericht Protestformen von Corona-Leugnern und sogenannten Querdenkern heraus, die aufgrund ihrer Merkmale für rechtsextremistische Organisationen anschlussfähig sind und die ihrerseits teilweise Züge verfassungsfeindlichen Denkens aufweisen. Anhand der Bereitschaft, an gemeinsamen Veranstaltungen mit Personen aus dem nichtextremistischen Milieu, wie etwa an den Demonstrationen der sogenannten „Querdenker“ teilzunehmen, zeigt sich ein grundlegender Strukturwandel des Rechtsextremismus. Dahinter verbirgt sich die Tendenz, auf eigene klassische Organisationsstrukturen zu verzichten, um sich mithilfe einer Vermischung von rechtsextremistischen Ideologieelementen mit populistischen Elementen neuen Kreisen anzudienen oder diese für sich zu gewinnen.
Querdenker unter Beobachtung
In Niedersachsen sind Teile der sogenannten Querdenker-Szene und ähnliche Gruppierungen im letzten Monat zunächst für zwei Jahre unter der Bezeichnung „Demokratiefeindliche und/oder sicherheitsgefährdende Delegitimierung des Staates“ zum Verdachtsobjekt bestimmt worden. Dazu Verfassungsschutzpräsident Witthaut: „Die nun von uns beobachteten Personen und Gruppierungen akzeptieren keine demokratischen Regulierungsmechanismen und erkennen faktenbasierte Entscheidungsprozesse nicht an. Die staatlichen Institutionen werden in sicherheitsgefährdender Weise verächtlich gemacht. Es zeichnet sich ab, dass eine Orientierung an Verschwörungstheorien die Grundlagen der freiheitlichen demokratischen Grundordnung beeinträchtigen. Das illustrieren die einschlägigen Begriffe wie ‚Corona-Diktatur‘ oder ‚Ermächtigungsgesetz‘. Es werden Forderungen nach einem Sturz der Regierung laut. Zum Teil wird Gewalt als legitimes Mittel in der politischen Auseinandersetzung befürwortet.“
Die Todesliste der Coronaleugner
Mit dieser Entwicklung geht eine wachsende Verrohung in der politischen Debattenkultur einher. Mehr als 2.000 Beleidigungen, Bedrohungen, Körperverletzungen und Widerstandshandlungen gegen Amtsträgerinnen und -träger sind im vergangenen Jahr in Niedersachsen registriert worden. Selbst in nicht anonymisierten Mails ist vom „Vaterlandsverräter“ die Rede und davon, dass man aufgehängt gehöre. Auch eine „Todesliste“ kursierte über den Messenger-Dienst Telegram, auf der alle rund 340 Politikerinnen und Politiker zu finden waren, die für das aktuelle Infektionsschutzgesetz im Bundestag gestimmt haben. "Erst kürzlich habe auch ich zwei Mails bekommen, in denen meine Familie und ich massiv bedroht wurden", so Pistorius während der Pressekonferenz.
AfD im Fokus der Linksextremen - Eskalation im Wahljahr?
"Weitreichende Kontaktbeschränkungen und geschlossene autonome Zentren brachten die Aktivitäten der linksextremen Szene in Niedersachsen weitestgehend zum Erliegen oder sie verlagerten sich ins Internet", leitet Pistorius den Themenkomplex Linksextremismus ein. Die autonome Szene habe sich in ihrer "antifaschistischen Arbeit" auf die direkte Auseinandersetzung mit der AfD konzentriert. "Es ist mit Übergriffen auf Informationsstände der AfD ebenso zu rechnen wie mit Versuchen, Veranstaltungen dieser Parteien zu verhindern", mahnt der niedersächsische Verfassungsschutzpräsident Bernhard Witthaut und berichtet weiter: "Körperliche Übergriffe auf einzelne AfD-Funktionsträger schließen wir nicht aus, ebenso möglicherweise gezielte Anschläge auf deren Eigentum". Vor allem im Vorfeld der anstehenden Bundes- und Landtagswahlen sei mit Vorfällen zu rechnen. Weiterhin versuchten Linksextreme, Klimaschutzbewegungen wie Fridays for Future für sich zu vereinnahmen. Die Zahlen für Niedersachsen unterteilt der Verfassungsschutz in Autonome und sonstige gewaltbereite Linksextremisten sowie Anarchisten. Die Zahl der aktiven Personen in diesem Spektrum ist im Gegensatz zu 2019 (780 Personen) auf 790 Personen in 2020 gestiegen. Bei den Marxisten-Leninisten und anderen revolutionären Marxisten stieg die Zahl von 425 auf 430 Personen.
Auch Salafismus ist in Braunschweig zu Hause
Die Zahl der Anhänger der salafistischen Szene in Niedersachsen habe sich laut Verfassungsschutzbericht bei aktuell 900 Personen auf hohem Niveau stabilisiert. Derzeit fehlen der salafistischen Szene identitätsstiftende und damit gemeinschaftsfördernde ideologische Führungsfiguren, weshalb sich die Fragmentierung der Szene verfestigt. Der Prediger des „Deutschsprachigen Islamkreises e. V.“ (DIK) Hildesheim, Abu Walaa, wurde vom Oberlandesgericht Celle zu zehneinhalb Jahren Haft verurteilt; der bundesweit bekannte Prediger Sven Lau befindet sich offiziell in einem Aussteigerprogramm in Nordrhein-Westfalen. Die „Deutschsprachige Muslimische Gemeinschaft e.V.“ (DMG) Braunschweig versucht, diese Lücke zu schließen, indem sie wöchentlich Vorträge und Predigten mit überregional bekannten Predigern anbietet und per Livestream überträgt.
"Die latente Gefahr von (islamistischen) Anschlägen besteht fort. Jihadistische Propaganda internationaler Terrororgansiationen ist nach wie vor ausgeprägt, es gibt professionelle Aufrufe, sowie konkrete Anleitungen zur Durchführung eines Terroranschlags. Es ist jedem möglich."
Antisemitismus in allen Extremismusbereichen
In der Extremismusprävention fokussiert sich der Niedersächsische Verfassungsschutz auf das Thema Antisemitismus. Die jüngste Eskalation des Nahostkonflikts mache deutlich, wie sehr sich internationale Entwicklungen auch auf die Sicherheitslage in Deutschland auswirken können. In zahlreichen deutschen, auch niedersächsischen Städten, kam es zu teils gewaltsamen Protesten gegen die Politik Israels, die in antisemitischen Übergriffen und Parolen mündeten. "Mittlerweile erleben wir beinahe täglich, dass mit rechtsextremistischen Äußerungen bisher bestehende Tabus gebrochen werden. Wir beobachten eine mit Vorurteilen aufgeladene Debattenkultur in den sozialen Medien. Gerade antisemitische Stereotype spielen dabei immer öfter eine zentrale Rolle, und zwar in allen extremistischen Feldern." "Das perfide ist: Alle diese Extremisten können mit ihren antisemitischen Ideologien an die von vielen Personen getragenen Vorurteile gegen Jüdinnen und Juden anknüpfen." Dem müsse man entschieden entgegentreten, ein Erlass zur Einschränkung von Demonstrationen um Synagogen gebe es bereits. "Der richtige Weg ist deshalb, sich die einzelnen Versammlungen, Anmeldenden und Teilnehmenden genau anzuschauen und je nach Erkenntnislage Versammlungen zu verbieten oder mit ausreichenden Polizeikräften für Sicherheit – und für eine konsequente Verfolgung von Straftaten – zu sorgen."
Aktualisiert - 21:16 Uhr: Auf Wunsch in den sozialen Medien wurden die Zahlen des Verfassungsschutz für bekannte Linksextremisten ergänzt. Die Auslassung erfolgte aufgrund der Herausarbeitung von Besonderheiten für die Region Braunschweig. Für die linkextremistische Szene nannte der Verfassungsschutz lediglich Schwerpunkte ohne direkten regionalen Bezug.
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