Brüssel. Rechte Parteien werden bei der Europawahl laut einer Prognose des Instituts Ipsos wahrscheinlich so stark wie noch nie.
Die Fraktion "Identität und Demokratie" (ID), zu der auch die AfD gehört, würde 81 Abgeordnete stellen (bislang 59), die Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer (ECR), deren größte Partei bislang die polnische PiS ist, würde von 68 auf 76 Sitze anwachsen. Insgesamt würden diese beiden rechten Fraktionen nun mehr als ein Fünftel (21,8 Prozent) aller gewählten Abgeordneten des EU-Parlaments stellen, was einen neuen Rekord darstellt: 2019 lag dieser Wert noch bei 18 Prozent, 2014 bei 15,7 Prozent, 2009 bei 11,8 Prozent und 2004 nur bei 8,7 Prozent.
Trotz dieses deutlichen Anstiegs sei der rechte Flügel aber "noch weit davon entfernt, das Europäische Parlament zu dominieren", heißt es von den Studienautoren. Die Zugewinne für die radikale Rechte hängen demnach unter anderem mit dem erwarteten sehr guten Ergebnis des französischen Rassemblement National (28 Sitze, +10), der deutschen AfD (15 Abgeordnete, +6) und von Geert Wilders PVV in den Niederlanden (9 Sitze, +9) zusammen. In Italien dagegen stagnieren die Rechten: Die Partei Fratelli d`Italia von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni legt zwar stark zu (24 Sitze, +14), aber hauptsächlich auf Kosten der ebenfalls nationalistischen Lega von Matteo Salvini (7 Abgeordnete, -16). Und in Polen ist die PiS-Partei, die bei den Parlamentswahlen 2023 die Macht verloren hat, stark rückläufig (16 Sitze, -11). Der Vormarsch nationalistischer Parteien würde das Zentrum des nächsten Europäischen Parlaments zwar leicht nach rechts verschieben, aber das grundlegende Gleichgewicht nicht verändern, heißt es von Ipsos.
Nur eine große Koalition, bestehend aus Abgeordneten der bürgerlich-konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), der Sozialdemokraten (S&D) und der Fraktion "Renew Europe", die liberale und zentristische Parteien vereint, würde eine Mehrheit der Sitze gewinnen (398 von 720). Während die Werte für die EVP- (177 Sitze, -1) und S&D-Fraktion (136 Abgeordnete, -4) recht stabil sind, müssen die Liberalen mit starken Verlusten rechnen (85 Sitze, -17). Die Fraktion der Grünen/EFA, die häufig den vom Parlament angenommenen Texten zustimmt, wird wahrscheinlich ebenfalls viele Sitze verlieren (55, -17) und würde damit ihr Rekordergebnis von 2019 nicht bestätigen.
Alternative Koalitionen wären wahrscheinlich nicht auf Dauer tragfähig: Eine Mitte-Rechts-Koalition (EVP, Renew, ECR) hätte mit nur 338 von 720 Abgeordneten keine Mehrheit im Europäischen Parlament. Eine Rechtskoalition (EVP, ID, ECR), würde laut Prognose 334 Sitze erhalten. Die beiden traditionell größten Fraktionen im Europäischen Parlament, die EVP und die S&D, würden insgesamt nur 313 Abgeordnete (43,5 Prozent der Gesamtzahl) stellen - der niedrigste Wert seit 1979.
Obwohl die CDU/CSU-Gruppe mit 28 deutschen Europaabgeordneten weiterhin die stärkste nationale Delegation im nächsten EU-Parlament stellen könnte, liegt sie in der aktuellen Ipsos-Prognose inzwischen nur noch gleichauf mit dem französischen Rassemblement National. Bestätigt sich dieser Trend bei den Wahlen im Juni, könnte zum ersten Mal eine Rechtsaußenpartei die größte Delegation im Europäischen Parlament bilden.
Der Blick auf die Wahlabsichten der deutschen Bevölkerung bei der Europawahl zeigt ebenfalls deutliche Verschiebungen. Die Union würde ihr Ergebnis vom Jahr 2019 mit 29 Prozent der Stimmen in etwa halten (28 Sitze, -1), ebenso wie die SPD, die bei 17 Prozent liegt und mit 16 Europaabgeordneten (±0) rechnen kann. Für die Grünen und die AfD würden sich 16 Prozent der Wahlberechtigten entscheiden, was jeweils 15 Sitzen im EU-Parlament entspricht. Während die Grünen jedoch 6 Sitze im Vergleich zur letzten EU-Wahl verlieren würden, gewinnt die AfD nach jetzigem Stand 4 Abgeordnete hinzu. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (7 Prozent) würde aus dem Stand 7 Europaabgeordnete stellen. Die FDP (4 Prozent) und die Linke (4 Prozent) würden jeweils einen Sitz verlieren (4 Sitze, -1), während die Freien Wähler (3 Prozent) mit 3 Abgeordneten vertreten wären (+1).
Ipsos hatte im Auftrag von "Euronews" zwischen dem 23. Februar und dem 5. März in den 18 bevölkerungsreichsten EU-Ländern 25.916 Personen im wahlberechtigten Alter online oder telefonisch interviewt. In den anderen 9 Mitgliedsstaaten wurde die Prognose auf der Grundlage der verfügbaren Umfragen für die EU- und/oder Parlamentswahlen, der Ergebnisse früherer Europawahlen und der jüngsten Parlaments- und Kommunalwahlen sowie einer Analyse der politischen Lage in diesen Ländern erstellt.
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