Am 9. Juni 2011 stellten FDP-Fraktionschef Dürr und der innenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion, Oetjen, der Öffentlichkeit „Zehn Punkte für eine liberale Flüchtlings-, Asyl- und Ausländerpolitik“ vor. Die meisten dieser Thesen brechen mit der bislang von der FDP mitgetragenen Flüchtlingspolitik der Landesregierung.
Nach Darstellung der SPD erteilte Innenminister Schünemann dem Papier umgehend eine klare Abfuhr und ließ mitteilen, die zehn Thesen „mit Schmunzeln zur Kenntnis genommen“ und dann unter einem Aktenberg begraben zu haben. Gleichzeitig lässt er sich in einer Boulevardzeitung mit den Worten zitieren: „Lieber ein harter Hund als ein Warmduscher“.
Ministerpräsident McAllister schweigt öffentlich zum Streit zwischen Schünemann und dem FDP-Koalitionspartner. Vor diesem Hintergrund fragte die SPD wir die Landesregierung:
1. Unterstützt die Landesregierung die deutliche Ablehnung der zehn Thesen der FDP-Fraktion zur Flüchtlingspolitik durch Innenminister Schünemann, der verkünden ließ, die Thesen „mit Schmunzeln zur Kenntnis genommen“ und dann unter einem Aktenberg begraben zu haben?
2. Welche der zehn Thesen der FDP-Fraktion zur Flüchtlingspolitik teilt die Landesregierung, welche lehnt sie ab?
3. Wo ist in der bisherigen Flüchtlingspolitik des Landes die liberale Handschrift des Koalitionspartners FDP zu erkennen?”
Innenminister Uwe Schünemann beantwortete namens der Landesregierung die Dringliche Anfrage wie folgt:
Zu 1. – Seit Übernahme der Regierungsverantwortung im Jahre 2003 orientiert sich das Handeln der Landesregierung im Bereich der Flüchtlingspolitik an den rechtsstaatlichen und durch die Genfer Flüchtlingspolitik gesetzten Vorgaben. Leitlinie war stets der staatliche Anspruch, die Zuwanderung aus Drittstaaten wirksam zu steuern. Darüber hinaus besteht Einigkeit, dass mögliche Änderungen auf diesem Rechtsgebiet keine Revision der 1992 im Parteienkompromiss zu Asyl und Einwanderung vereinbarten legislativen und exekutiven Maßnahmen bedeuten darf.
Die Schutzgewährung von Flüchtlingen erfolgt in Deutschland entsprechend der Genfer Flüchtlingskonvention und innerhalb des in der Europäischen Union gesetzten Rechtsrahmens. Die Anerkennung als Asylberechtigter oder als Flüchtling nach der Genfer Flüchtlingskonvention orientiert sich ausschließlich daran, ob jemand politisch verfolgt wird.
Die sich aus der Anerkennung ergebenden Aufenthaltsrechte sehen ausdrücklich generell vom Erfordernis der eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts ab. Sie eröffnen den Begünstigten den uneingeschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt. Auch die Regelungen des Aufenthaltsgesetzes erfüllen alle verfassungsrechtlichen Erfordernisse einschließlich der Grundrechte, insbesondere des Gebots der Unantastbarkeit der Würde des Menschen.
Ausländer- und Flüchtlingspolitik ist und bleibt Angelegenheit des Bundes. Innerhalb dieses Jahres ist eine starke Gesetzgebungstätigkeit zur Änderung des Aufenthaltsgesetzes zu verzeichnen. Zwei Gesetzgebungsverfahren, nämlich die Neuregelung zur Einführung eines elektronischen Aufenthaltstitels und die Erweiterung der Rückkehroption für Opfer von Zwangsheirat sowie weitere Verbesserungen im Bereich humanitärer Aufenthaltszwecke sind abgeschlossen. Ein weiteres Verfahren, nämlich das Zweite EURichtlinienumsetzungsgesetz ist noch im Bundestag anhängig. Mit den Gesetzesänderungen sind auch die in der Koalitionsvereinbarung auf Bundesebene zwischen der CDU/CSU und der FDP vereinbarten Änderungen umgesetzt.
Zu 2. – Zu den Punkten im Einzelnen:
Residenzpflicht
Residenzpflicht ist die bundesgesetzlich festgelegte Aufenthaltsbeschränkung; die Residenzpflicht ist für Asylbewerber gesetzlich vorgeschrieben für die Dauer, in der sie zum Wohnen in einer Erstaufnahmeeinrichtung verpflichtet sind. Nach dieser Zeit besteht nach § 58 Abs. 6 AsylVfG für die Länder die Möglichkeit, durch Verordnung für Asylbewerber diese Beschränkung zu lockern und bis auf den Bereich des gesamten Landes zu erweitern.
Eine solche Verordnung ist in Vorbereitung. Die Wohnsitznahme bleibt hiervon unberührt. Für geduldete Ausreisepflichtige besteht bereits jetzt keine Aufenthaltsbeschränkung – sie können sich im Land uneingeschränkt bewegen.
Dezentrale Unterbringung
Für die Erstaufnahme von Asylbewerbern ist das Land bundesgesetzlich verpflichtet, zentrale Erstaufnahmeinrichtungen sowie eine zentrale Unterbringung vorzuhalten; Niedersachsen kommt dieser Verpflichtung durch die beiden Einrichtungen in Braunschweig und Friedland nach.
Sobald die Asylbewerber nicht mehr zum Wohnen in einer Erstaufnahmeinrichtung verpflichtet sind, sollen sie nach den gesetzlichen Vorgaben des Bundes in der Regel in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden. In der Ausgestaltung dieser gesetzlichen Vorgabe haben die Kommunen Gestaltungsspielraum, die Unterbringung im Rahmen der örtlichen Gegebenheiten zu organisieren, d.h. zentral oder dezentral unterzubringen.
Vorgaben seitens des Landesgesetzgebers oder des Innenministerium gibt es in diesem Bereich nicht. Zur Entlastung der Kommunen hält das Land eigene Einrichtungen zur Unterbringung von Asylbewerbern und ausreisepflichtigen Ausländern bereit.
Sprachkurse
Sprachkenntnisse sind ein entscheidender Faktor zur Integration von Ausländern in die hiesigen Lebensverhältnisse. Es ist daher angezeigt, denjenigen Asylbewerbern einen Sprachkurs anzubieten, die eine Chance auf ein dauerhaftes Bleiberecht in Deutschland besitzen. Es wird zurzeit geprüft, ob das Land in Friedland Ausländern, die nach einer Prognose des zuständigen BAMF eine Chance auf Anerkennung haben, eine Teilnahme an den dortigen Sprachkursen ermöglichen soll.
Zugang zum Arbeitsmarkt
Flüchtlinge, haben schon jetzt unmittelbar nach ihrer Anerkennung uneingeschränkten Zugang zu einer selbstständigen Tätigkeit oder einer Beschäftigung. Die Beteiligung der Arbeitsagentur ist nicht erforderlich, mithin auch keine Vorrangprüfung. Die Vorrangprüfung findet nur Anwendung bei Asylbewerbern und bei Geduldeten, die auch zur Ausreise verpflichtet sind. Durch die Vorrangprüfung soll nicht nur sichergestellt werden, dass nachweislich kein deutscher Arbeitssuchender gefunden werden kann, sondern auch, ob bereits sich rechtmäßig in Deutschland aufhaltende Ausländer zur Verfügung stehen.
Soweit die Betroffenen das Ausreisehindernis nicht selbst zu verantworten haben, kann ich mir zur Entlastung der Sozialsysteme eine Modifizierung der Vorrangprüfung vorstellen.
Legale Wirtschaftsmigration in die EU, Punktesystem Eine steuernde Zuwanderungspolitik steht im engen Kontext zur konkreten Arbeitsmarktsituation. Es gilt, eine Teilnahme am Erwerbsleben und damit eine materielle Selbstständigkeit sicherzustellen. Insoweit sind Regularien, die sich an einer solchen Verknüpfung orientieren, zielführend.
Abschiebungshaft
Die Abschiebungshaft als Mittel zur Sicherstellung und Durchsetzung der Ausreisepflicht von Ausländerinnen und Ausländer, die dieser Verpflichtung freiwillig nicht nachkommen, setzt immer einen richterlichen Beschluss voraus. Dieser richterliche Vorbehalt zur Prüfung einer Freiheitsentziehung ist ein wesentlicher Grundpfeiler der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. In der Vergangenheit sind keine gerichtlich festgestellten Grundrechtsverletzungen im Rahmen des Abschiebungsvollzugs in Niedersachsen
festgestellt worden.
Die derzeit geltenden Rechtsnormen garantieren, dass der betroffene Ausländer in jeder Phase seines aufenthaltsrechtlichen Verfahrens, einschließlich der Aufenthaltsbeendigung, einstweiligen Rechtsschutz beim zuständigen Verwaltungsgericht beantragen und erhalten kann.
Ermessensspielraum bei der Erteilung des Aufenthaltstitels bzw. der Abschiebung Eine Ermessensentscheidung ist bei der Erteilung des Aufenthaltstitels bzw. der Durchsetzung der Ausreisepflicht bundesgesetzlich nicht vorgesehen. Es ist vielmehr gesetzlich definiert, welche Voraussetzungen für derartig weitgehende Eingriffe in die persönliche Freiheit eines Menschen vorliegen müssen.
Der Gesetzgeber hat sich hier im Sinne einer einheitlichen und damit gerechten Verfahrensweise klar positioniert. Intention einer solchen Regelung ist es auch, eine annähernd gleichmäßige Handhabung der Gesetzesanwendung zu gewährleisten und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Ausländerbehörden insbesondere bei Vollzugsentscheidungen vor möglichem erheblichen Druck von außen zu schützen.
Europäische Flüchtlingspolitik
Die Bundesregierung hat sich im Rahmen der letzten JI – Rat Beratungen zu einem Festhalten an den Regelungen der Dublin II Verordnung bekannt. Auf Krisensituationen wird durch bilaterale Regelungen angemessen reagiert – ich verweise hier aktuell auf die Aufnahme der Flüchtlinge aus Malta.
Bleiberecht für langjährig Geduldete
Seit Übernahme der Regierungsverantwortung im Jahre 2003 hat es mehrere Bleiberechtsregelungen gegeben, die auch von Niedersachsen maßgeblich mitgestaltet wurden.
Im Zuge der letzten Änderung des Aufenthaltsgesetzes ist auf Initiative von Niedersachsen mit der Schaffung des § 25a ein eigenständiges, vom Aufenthaltsrecht der Eltern unabhängiges Bleiberecht für in Deutschland geborene oder aufgewachsene ausländische Jugendliche und Heranwachsende aufgenommen worden. Die Gesetzesänderung enthält auch eine Regelung zugunsten der sorgeberechtigten Eltern sowie der jüngeren Geschwister von begünstigten minderjährigen Jugendlichen.
Kommunales Wahlrecht für Ausländer
Im Rahmen der Beantwortung verschiedener parlamentarischen Anfragen zu diesem Bereich wurde unter anderem dargelegt, dass – unter Hinweis auf die Anhörung im Bundestagsinnenausschuss im September 2008 – verschiedene Experten eine solche Verfassungsänderung für unzulässig halten: Das (Wahl-)Volk im Sinne von Artikel 20 GG könne nicht durch eine anders umschriebene Wählerschaft ersetzt werden. Darin läge auch ein Verstoß gegen die sog. Ewigkeitsklausel des Artikels 79 Abs. 3 GG.
Mehrstaatlichkeit
Das zur Evaluation der Optionsregelung durch das BMI in Auftrag gegebene Projekt dauert noch an. Die Ergebnisse sollten in der weiteren Diskussion Berücksichtigung finden.
Zu 3. – Die Flüchtlingspolitik der niedersächsischen Landesregierung orientiert sich nicht an liberalen, konservativen oder sonstigen politischen Ausrichtungen, sondern an den durch die Genfer Flüchtlingskonvention sowie dem Grundgesetz festgelegten Grundsätzen, die eine humanitäre Flüchtlingspolitik beinhalten.
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