Vorwurf der Manipulation bei der Verteilung von Transplantationsorganen: Beschuldigter bleibt in Haft




Der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig (OLG) hat mit Beschluss vom 20.03.2013 (Geschäftsnummer: Ws 49/13) die weitere Beschwerde des Beschuldigten gegen den Haftbefehl des Amtsgerichts Braunschweig als unbegründet zurückgewiesen. Auch das Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft blieb ohne Erfolg.

Hintergrund:

Dem 45-jährigen Prof. O wird seitens der Staatsanwaltschaft Braunschweig vorgeworfen, als seinerzeit verantwortlicher Arzt des Transplantationszentrums der Universitätsmedizin Göttingen seine auf eine Leberspende wartenden eigenen Patienten durch Manipulation der Zuteilungsreihenfolge bevorzugt zu haben. Dazu soll er seine Patienten der Stiftung EUROTRANSPLANT jeweils wahrheitswidrig als Dialysepatienten gemeldet haben. In einigen Fällen habe er Patienten auch schon dann auf die Warteliste setzen lassen, bevor die vorgeschriebene Alkoholkarenz von sechs Monaten eingehalten war.

Die Staatsanwaltschaft legt ihren Ermittlungen dabei die Überlegung zugrunde, dass diese Bevorzugung eigener Patienten aufgrund des bekannten Organmangels zwangsläufig die Behandlung anderer lebensbedrohlich erkrankter und auf eine Leberspende wartender Patienten in 9 Fällen womöglich bis zu deren Tod verzögert habe, bewertet die Manipulation des Zuteilungsverfahrens daher im Haftbefehlsantrag als versuchte Tötung (§§ 212, 22, 23 Abs. 1 StGB) und hat beim Amtsgericht Braunschweig am 11.01.2013 gegen den Beschuldigten einen entsprechenden Haftbefehl erwirkt. Der Beschuldigte sitzt seit dem 11.01.2013 in Untersuchungshaft.

Wichtig: Das Verfahren befindet sich noch im Ermittlungsstadium. Die Ausführungen des Senats stellen daher Bewertung des bisherigen Ermittlungsergebnisses dar. Der für den Beschuldigten sprechenden Unschuldvermutung ist daher in besonderer Weise Sorge zu tragen!

Nach Auffassung des Senats unter Vorsitz von Dirk Amthauer besteht in vier Fällen der dringende Verdacht, dass der Beschuldigte verantwortlich die Zuteilungsverfahren durch Falschangaben zu Dialysen bzw. Nichtbeachtung der Alkoholkarenz systematisch beeinflusst hat, um die eigenen Patienten bei der Organvergabe zu bevorzugen.

Voraussetzungen für die Organzuteilung:

Das Transplantationsgesetz (§ 12 Abs. 1) bestimmt, dass die Vermittlungsstelle (EUROTRANSPLANT) die Organe nach Erfolgsaussicht und Dringlichkeit an geeignete Patienten vermitteln muss. Dies sind aber keineswegs gleichgerichtete Kriterien, sondern sie befinden sich in einem Spannungsfeld, weil sich die Dringlichkeit am Gesundheitszustand orientiert („je kranker, desto eher"), die Aussichten einer Organübertragung aber höher sind, je besser es um die Gesundheit des Patienten noch steht.

Für Lebertransplantationen bemisst sich der für die Zuteilung der Spenderorgane maßgebliche Rangplatz der Patienten nach dem sog. „MELD-Score" (MELD = Model for Endstage Liver Disease - etwa: Rangpunktemodell für Lebererkrankungen im Endstadium), in den drei Laborwerte (Kreatinin, Bilirubin und Blutgerinnungswert -INR) der Patienten eingehen, die nach medizinischem Erkenntnistand eine Aussage über den Schweregrad und das Stadium der Erkrankung und damit eine Einschätzung der verbliebenen Lebenserwartung zulassen. Der nach der maßgeblichen Berechnungsformel erreichbare höchste Punktwert ist „MELD-40", der einem solchen Schweregrad der Lebererkrankung entspricht, dass mit 98%-Wahrscheinlichkeit ohne lebensrettende Transplantation innerhalb der nächsten drei Monate der Tod des Patienten erwarten werden muss.

Besonders in Deutschland übersteigt die Zahl der lebensbedrohlich erkrankten und dringend auf ein Spenderorgan angewiesenen Patienten die Zahl der für eine Transplantation zur Verfügung stehenden Organe deutlich.

Die an EUROTRANSPLANT gemeldeten Parameter müssen, andernfalls der MELD-Score auf den Wert 6 zurückgesetzt wird und der erreichte Rangplatz auf der Warteliste verloren ist, fortlaufend in durch den erreichten Stand des MELD-Scores bestimmten Intervallen - ab MELD-Score 25 alle 7 Tagen - durch zu übersendende Laborbefunde aktualisiert werden. Dadurch wird der Verlauf der Erkrankung fortlaufend überwacht und gemeldete Werte können vor Zuteilung eines Transplantats auf Plausibilität überprüft und auf Fehlmessungen beruhende Werte zugleich eliminiert werden. Das Fälschen von Laborwerten würde daher mit großer Wahrscheinlichkeit auffallen, zumal dazu Laborkräfte in die Manipulationskette eingebunden werden müssten.

Für die Meldung einer Dialysebehandlung genügte es im Tatzeitraum (2009 - 2011) demgegenüber, auf der elektronischen Eingabemaske (Meldeformular) an EUROTRANSPLANT unter der Rubrik für Dialyse ein „Y" (Yes = Ja) zu setzen, und schon wurde einer der maßgeblichen Parameter auf den Höchstwert gesetzt und der MELD-Score stieg. Ob es eine Nierenersatzbehandlung tatsächlich gegeben hatte, musste gegenüber EUROTRANSPLANT weder belegt werden noch wurde dies weiter überprüft, so dass sich hinzuerfundene Dialysen für Manipulationen geradezu angeboten haben.

Wichtig: Dieses Verfahren ist Mitte 2012 geändert worden! Seitdem muss auf der Meldung angegeben werden, welcher Arzt für die Indikation zur Nierenersatztherapie verantwortlich ist und welche Funktion er in der Klinik hat, wodurch sichergestellt werden soll, dass neben dem Transplantationsarzt ein weiterer, unabhängiger Arzt in die Beurteilung einbezogen und namentlich benannt wird.

Tatsächliche Würdigung des Senats:

Der Senat sieht dringende Anhaltspunkte dafür, dass tatsächlich verantwortlich durch den Beschuldigten in mindestens acht Fällen in entsprechender Weise Manipulationen vorgenommen wurden.

Insbesondere aus dem Bericht einer Prüfungskommission sprächen tatsächliche Anhaltspunkte, dass Daten auf Patientenaufklebern nicht stimmen, sowie Hinweise, dass angeblich an unterschiedlichen Tagen gefertigte Belege tatsächlich im Durchschreibeverfahren erstellt wurden, die darauf hindeuten, dass anschließend tatsächlich falsche Dialysebelege angefertigt und zur (Papier-) Akte des Patienten genommen worden seien.

Zudem besteht nach Auffassung des Senats in 3 Fällen zugleich der dringende Verdacht, dass bei der Meldung zur Warteliste planmäßig unbeachtet gelassen wurde, dass die Alkoholkarenzzeit noch nicht abgelaufen war und auch kein Konsil die Listung des Patienten trotz der nicht überwundenen Alkoholabhängigkeit empfohlen hatte.

Zur rechtlichen Bewertung hat der Senat ausgeführt:

Vorsätzliche Falschangaben gegenüber der gem. § 12 Transplantationsgesetz zuständigen EUROTRANSPLANT können als versuchte Tötung zum Nachteil dadurch übergangener Patienten bewertet werden, wenn der Täter weiß, dass seine Angaben nicht weiter überprüft werden, sie die Zuteilungsreihenfolge so weit beeinflussen, dass es in einem engen zeitlichen Zusammenhang unmittelbar zur Zuteilung eines Spenderorgans kommt und die rettende Transplantationsbehandlung anderer Patienten dadurch lebensbedrohlich verzögert wird.

Dass andere auf eine Leberspende angewiesene Kranke aufgrund der Manipulation der Zuteilungsreihenfolge tatsächlich verstorben sind, sei schon deshalb nicht feststellbar, weil entsprechende Daten und Auskünfte aus Gründen des Datenschutzes (bislang) nicht vorliegen. Der Senat teilt jedoch die rechtliche Auffassung der Strafkammer, dass der Beschuldigte auf der Grundlage des gegenwärtig erzielten Ermittlungsstandes dringend verdächtig ist, es immerhin für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen zu haben, dass auf der Warteliste durch seine Manipulationen überholte Kranke vor einer rettenden Transplantation versterben, er also mit Tötungsvorsatz gehandelt hat und damit wegen versuchten Totschlags (in jetzt noch acht Fällen) zur Verantwortung zu ziehen sein dürfte.

Es bestehe der dringende Verdacht, dass der Beschuldigte mit Tötungsvorsatz gehandelt habe. Hierfür reiche ein sogenannter bedingter Vorsatz. Bedingt vorsätzliches Handeln setzt nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dabei voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt (Wissenselement), ferner dass er ihn billigt oder sich um des erstrebten Zieles willen zumindest mit der Tatbestandsverwirklichung abfindet (Willenselement) (BGH 3 StR 112/90).

Zwar seien bei der Feststellung eines Tötungsvorsatzes - zumal bei einem Arzt, dem man schon grundsätzlich unterstellen kann, dass das Wohl der Patienten jeweils im Vordergrund steht, hohe Hürden zu überwinden. Eine Betrachtung aller Tatumstände führt zunächst dazu, dass auf der Grundlage des bisherigen Ermittlungsergebnisses mit dringender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass es der Beschuldigte für möglich gehalten hat, infolge seiner Manipulationen könnten andere Menschen sterben (Wissenselement). Dass eine Manipulation der Wartelistenrangfolge die rettende Operation aller zuvor auf einem besseren Listenplatz stehenden Patienten verzögert, liegt nach der Würdigung des Senats auf der Hand. Dass diese Verzögerung dann die Gefahr begründet, dass die übergangenen Kranken womöglich sogar vor der in Aussicht genommenen rettenden Transplantation sterben, beruht auf dem die Organzuteilung bestimmenden MELD-Score-System, weil dieses gerade den Schweregrad der Erkrankung des Patienten und damit die Dringlichkeit einer Operation wiedergibt. Jeder Tag, jede Stunde, sogar jede Minute sind also gerade für die schwerstkranken Patienten, die ohne neue Leber jederzeit sterben können, lebenswichtig, und jede Verzögerung, sei sie noch so gering, bringt sie dem Tod unmittelbar näher.

Es sei - so der Senat - dringend wahrscheinlich, dass der Beschuldigte in jedem einzelnen Fall billigend in Kauf genommen hat, dass jeweils eine oder mehrere Personen, die aufgrund ihrer Erkrankung sonst bevorzugt ein Organ hätten bekommen sollen, ein Organ nicht mehr rechtzeitig erhalten und infolgedessen versterben.

Gerade die große Sorge des Beschuldigten um seine eigenen Patienten einerseits, andererseits seine von ihm vorgetragene - allerdings nach Auffassung des Senats durch objektive Umstände nicht belegbare - Annahme, dass auch die anderen Transplantationsmediziner die Warteliste ebenso manipulieren, und seine grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Zuteilungsverfahren sowie die Anonymität der möglichen Tatopfer haben die einer Tötung grundsätzlich entgegenstehende Hemmschwelle so weitgehend herabgesetzt, dass sie der Annahme, der Beschuldigte habe als Arzt den Tod anderer Menschen billigend in Kauf genommen, nicht mehr entgegensteht.

„Billigen" im Rechtssinne setzt keine positive Einstellung des Täters zu dem als mögliche Folge seines Handelns erkannten Erfolg voraus. Das Merkmal ist auch dann erfüllt, wenn dem Täter der Tod des Opfers an sich höchst unerwünscht ist, er aber gleichwohl handelt, um das von ihm angestrebte und höher bewertete Ziel - hier: das Leben der eigenen Patienten - zu erreichen.

Nach Auffassung des Senats kann sich der Beschuldigte nicht auf Nothilfe oder einen anderen Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund berufen.

Eine Rechtfertigung wegen Nothilfe gem. § 32 StGB scheidet aus, weil die anderen Patienten trotz der auf der Organknappheit beruhenden Konkurrenzsituation keine Angreifer der vom Beschuldigten behandelten Patienten sind.

Dass Patienten mit einem MELD-Score von 40 in der Regel eine deutlich höhere Sterblichkeit nach der Transplantation haben als Patienten mit einem geringeren Zuteilungswert, rechtfertigt, auch wenn das Zuwarten die Chancen der eigenen Patienten auf ein Überleben der Erkrankung deutlich verschlechtert, schon deshalb keine Eingriffe in das Verteilungssystem, weil das Leben des Menschen nach dem Grundsatz des absoluten Lebensschutzes in jeder Phase ohne Rücksicht auf die verbliebene Lebenserwartung den ungeteilten Schutz der Rechtsordnung genießt.

Die beim Beschuldigten offenbar vorhandene Vorstellung, einem Patienten mit besserer Lebenserwartung zu Lasten eines Menschen mit geringerer Lebenserwartung helfen zu dürfen, widerspricht auch sonst der Rechtsordnung, weil bei einer - wie hier gegebenen - Gleichwertigkeit von Rechtsgütern eine Notstandslage (§ 34 StGB) stets ausscheidet.

Die Auswahl der geeigneten Empfänger war gerade nicht Aufgabe des über die Krankheitsgeschichte der anderen Patienten gar nicht informierten Beschuldigten, sondern stand jeweils allein EUROTRANSPLANT zu.

Hinzuweisen ist schließlich darauf, dass der Senat keinen Anhaltspunkt dafür gefunden hat, dass sich der Beschuldigte in irgend einer Weise selbst bereichert habe oder dies gewollt hätte.

Eine weitere Beschwerde gegen den Beschluss des OLG ist nicht gegeben.


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