Flucht in die Region: Zwischen Angst und Herzlichkeit

Mit neun Menschen floh eine ukrainische Familie in den Landkreis Helmstedt. Frauen, Kinder und Eltern sind heute in Sicherheit, die Männer aber warten darauf, dass der Krieg zu ihnen kommt. Einen hat er schon eingeholt.

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Symbolbild.
Symbolbild. | Foto: Über dts Nachrichtenagentur

Helmstedt. Bis zum 24. Februar führte die Familie von Julia und Daria Zhuravska ein Leben, wie es in jeder europäischen Großstadt stattfinden könnte. Arbeit, Familie, Hobbys, mit Netflix, Instagram und allem anderen, das auch zu unserem Alltag gehört. Dann aber kam der Krieg. Mitten in der Nacht wurden sie von russischen Bomben aus dem Schlaf gerissen, mussten mit Sack und Pack ihre Heimatstadt Kiew verlassen. Jetzt sind sie in einem Dorf im Landkreis Helmstedt angekommen. Frauen, Kinder und Alte jedenfalls. Die jungen erwachsenen Männer blieben in der Heimat und warten darauf, einberufen zu werden. regionalHeute.de hat mit der Familie gesprochen. Über den Krieg, die Flucht und die Ankunft in Deutschland.



Tagelang waren Julia Zhuravska und ihre Töchter Daria und Maria unterwegs, nachdem sie ihr Zuhause in Kiew verlassen mussten. Immer an ihrer Seite Julias Schwester Iryna mit ihren Kindern, dem 15-jährigen Illya und der 35-jährigen Viktoria, die wiederum ihre eigene Tochter Anna, sieben Jahre, dabei hatte. Ein weiterer Sohn Irynas blieb in der Ukraine. Mit 30 ist er im wehrfähigen Alter, ebenso die Ehemänner von Julia, Iryna und Viktoria und Darias Lebensgefährte. Während die Frauen, Kinder und Alten im sicheren Deutschland sitzen, warten die Männer in der nun fernen Ukraine auf ihre Einberufung. Kontakt bleibt nur über das Smartphone.

Eine unerwartet herzliche Aufnahme


Es war schon dunkel, als die Frauen und Kinder nach zwei Wochen auf der Flucht schließlich an dem Haus ankamen, das Sascha Zhuravska bereits vor zwei Jahren gekauft hatte, um seine Familie irgendwann nach Deutschland zu holen. Er hatte zuvor in München gearbeitet, als Handwerker, irgendwann zog es ihn mit einem Freund in die Region. Er kaufte ein kleines Haus mit Garten, etwas versteckt nahe einem Sportplatz in einem Dorf im Landkreis Helmstedt. Es war etwas in die Jahre gekommen, aber Sascha ist Handwerker. Das wäre schon machbar. Nun sitzt seine Familie in dem Haus. Neun Menschen auf zwei beengten Etagen, dazu ein Hund und mehrere Katzen.

Für die Familie war es ein Reise ins Ungewisse. Sie wussten von dem Haus, auch davon, dass der Vater sie aus der Metropole Kiew in die niedersächsische Provinz holen wollte. Aber bisher war das immer wieder aufgeschoben worden. Russlands Invasion brachte die Familie nun in das Dorf. Der Vater, die treibende Kraft hinter den Umzugsplänen, musste in der Ukraine bleiben. Dafür übernahm eine Freundin des Handwerkers die Begrüßung. Als die Familie ankam, stand sie bereits vor der Haustür. Die Betten waren bezogen, frische Handtücher in den ukrainischen Nationalfarben hingen im Bad und auch Lebensmittel waren schon gekauft. Die Familie dachte, dass ihnen die Schlüssel gegeben werden und sie dann auf sich allein gestellt seien. Stattdessen blieb Friedericke D., half bei Amtsgängen und dem Ankommen im fremden Land. Nachbarn brachten Futter für die Tiere und Spiele für die Kinder.

Die Männer im Krieg


Bei aller Herzlichkeit, die die Familie erfuhr, blieb doch immer der Gedanke an die Männer in der Heimat. Sie halten täglich über das Handy Kontakt, gerade haben die Männer noch Zeit. Als wir das Interview mit der Familie führten, saßen sie gemeinsam in einem Haus, in dem sie auf ihre Einberufung warteten. Das hieß tägliche Gänge zum Kreiswehrersatzamt, warten darauf, das man benötigt wird. Den Rest des Tages bohrendes Nichtstun. Die Telefonate mit der Familie aber helfen beiden Seiten. Es beruhigt zu wissen, wie es den Lieben geht, gerade in einer Situation wie dieser. Lediglich Darias Partner wohnt nicht in dem Haus irgendwo im Oblast Kiew. Er hatte erst vor einigen Jahren seinen Wehrdienst geleistet und war sofort gezogen worden, als er sich freiwillig meldete.

Im Gespräch klingelt Darias Handy. Sie springt auf, verlässt den Raum. Es ist ihr Freund. Die beiden tauschen sich aus, etwas außerhalb der restlichen Familie. Nach etwa 15 Minuten ist Schluss. Er hat nicht viel Zeit. Am nächsten Tag muss er an die Front, wie Daria erzählt. Sie bleibt gefasst, die Sorgen sind aber groß. Bisher war er Schießausbilder, irgendwo in der Westukraine. Nun wird sein Bataillon, das zur regulären ukrainischen Armee gehört, an die Front verlegt. Wie es ihm heute, zwei Wochen später, geht, ist der Redaktion nicht bekannt.

Ein Hauch Normalität


Als Daria wieder ins Wohnzimmer des kleinen Hauses in Deutschland kommt, will die Szenerie nicht zu der Nachricht passen, die sie gerade erhalten hat. Auf dem Tisch steht dampfender, noch warmer Apfelkuchen, ihre Schwester Maria spielt mit Viktorias Katze. Es gibt Kaffee und Tee, zubereitet von "Babushka" Ludmilla Fritiofenko. Die 76-Jährige war am selben Morgen um 5 Uhr in Deutschland angekommen, mit dem Zug. Sie und ihr 89-jähriger Lebensgefährte Mikola Yalyzhko waren mit dem Zug geflohen. Auch wenn Mikola erst nicht wollte, er habe ja schon einen Krieg überlebt, warum sollte ihn jetzt eine Bombe treffen, ergatterten sie schließlich einen Zug nach Westen. Über Lemberg und Polen trafen sie am frühen Morgen in der deutschen Hauptstadt ein. Enkelin Viktoria sammelte sie ein. Am Vormittag waren sie schließlich angekommen.

An Schlaf war trotzdem kaum zu denken. Natürlich schlossen sie für einige Stunden die Augen, als Ludmilla aber mitbekam, dass ein Gast kommen würde, backte sie einen Kuchen. Gäste müssen bewirtet werden. Egal in welcher Situation. So ist das nun mal. Zumal am selben Tag bereits mehrere Rentner im Haus waren, um ihre Hilfe anzubieten. Handwerklich, materiell, wie auch immer. Und dann kam auch noch ein Journalist. Es sei ihre Art, zurückzugeben, erzählen sie. Ein Nein zum Kuchen lassen sie nicht gelten.

Mittlerweile lebt die Familie seit etwas mehr als zwei Wochen in Deutschland. Iryna und Viktoria haben mittlerweile mit ihren Kindern eigenen Wohnungen gefunden, auch Daria ist ausgezogen. Die Kinder gehen zur Schule, auf das nächstgelegene Gymnasium und in die Grundschule. Julia hilft in einer provisorischen Flüchtlingsunterkunft. Sie spricht Deutsch, will sich einbringen und nicht einfach herumsitzen. Ob sie je wieder in die Heimat können, wissen sie aktuell nicht. Sie hoffen aber, ihre Lieben so schnell wie möglich wiederzusehen. In Deutschland oder der Ukraine.

Teil 1 der Serie:
Wie eine ukrainische Familie dem Krieg entkam

Teil 2 der Serie:
Eine Odysee durch Osteuropa


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