Region. Ende Mai kam es zu einem schrecklichen Unfall vor einer Grundschule in Bad Harzburg. Eine 88-Jährige hatte die Kontrolle über ihr Fahrzeug verloren. Dadurch wurde eine Fußgängerin, ein weiterer Autofahrer und zwei Kinder verletzt. Viele Grundschüler hatten das Unglück mit ansehen müssen. Dies sorgte im Netz für hitzige Diskussionen und auch die Frage nach einer Überprüfung der Fahrtauglichkeit von Senioren kam wieder auf. Doch wie steht die Politik dazu? regionalHeute.de fragte bei den Bundestagsabgeordneten aus der Region nach.
Seit Jahren wird die Frage nach der Fahrtauglichkeit von Senioren intensiv diskutiert. Die steigende Anzahl älterer Menschen auf den Straßen hat zu Bedenken hinsichtlich der Verkehrssicherheit geführt.
Die Fahrtauglichkeitsüberprüfung von Senioren steht dabei im Fokus vieler Diskussionen zu dem Thema. So wird argumentiert, dass regelmäßige medizinische Untersuchungen und Fahrtests für ältere Menschen sinnvoll seien, um mögliche altersbedingte Einschränkungen frühzeitig zu erkennen. Die Teilnahme an solchen Tests ergebe sich durch die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft.
Andere Stimmen hingegen sehen solche Überprüfungen als diskriminierend und unfair an. Sie argumentieren, dass die individuelle Fahrtauglichkeit nicht allein vom Alter abhängt, sondern von verschiedenen Faktoren wie Gesundheitszustand, körperlicher Fitness und Fahrerfahrung. Statt pauschaler Überprüfungen plädieren sie für eine individuelle Begutachtung, bei der die persönliche Eignung im Vordergrund steht.
Das sagen unsere Leser:
Die EU-Kommission hat den Vorschlag unterbreitet, dass Menschen über 70 alle fünf Jahre entweder eine Selbsteinschätzung zur Fahrtauglichkeit ausfüllen oder eine ärztliche Untersuchung durchführen lassen. "Die Entscheidung, ob Selbsteinschätzung oder Check beim Arzt, liegt bei den Mitgliedstaaten", schreibt die Kommission.
Die Diskussion um die Fahrtauglichkeitsüberprüfung von Senioren ist komplex und berührt viele ethische, rechtliche und soziale Aspekte. So hat regionalHeute.de die Bundestagsabgeordneten aus der Region befragt, um ihre Ansichten und Vorschläge zur Verbesserung der Verkehrssicherheit im Zusammenhang mit älteren Fahrern darzulegen.
Dr. Christos Pantazis (SPD)
Dr. Christos Pantazis betonte, dass angesichts von Unfällen wie dem jüngsten Vorfall in Bad Harzburg Handlungsbedarf bestehe. Er sieht die Notwendigkeit einer regelmäßigen Überprüfung der Fahrtauglichkeit bei älteren Menschen als gegeben an, da "die Anzahl älterer Autofahrer in unserer alternden Gesellschaft zunimmt und damit auch das Risiko von Unfällen, die von dieser Altersgruppe verursacht werden".
"Aus meiner Erfahrung als Arzt kann ich bestätigen, dass das Reaktions-, Seh- und Hörvermögen im fortgeschrittenen Alter oftmals beeinträchtigt ist. Auch Erkrankungen wie beispielsweise eine Demenz oder Verschleißerscheinungen an den Gelenken, die beispielsweise den beim Autofahren wichtigen Schulterblick erschweren können, erhöhen das Unfallrisiko", so der Bundestagsabgeordnete. Auch die Einnahme bestimmter Medikamente könne die Fahrtauglichkeit negativ beeinflussen.
Erste-Hilfe sei wichtig
Ein weiteres Anliegen von Dr. Pantazis sei das Thema Erste-Hilfe-Kenntnisse der Verkehrsteilnehmer, das altersunabhängig sei. Er spricht sich dafür aus, dass alle Verkehrsteilnehmer regelmäßig auf ihre Erste-Hilfe-Kenntnisse geprüft und diese bei Bedarf aufgefrischt werden sollten.
Auf die Frage ab welchem Alter eine Überprüfung der Fahrtauglichkeit angebracht wäre, schlägt Dr. Pantazis vor, dass dies ab etwa 65 Jahren sinnvoll wäre. Zur Umsetzung eines sogenannten Fahrtauglichkeits-Checks sieht er die Verantwortung bei den Bundesländern und den Zulassungsbehörden. Wichtig sei, dass die Fahrtauglichkeit durch eine praktische Prüfung von einem Fahrlehrer bestätigt werde.
Keine Diskriminierung
Bei einem negativen Ergebnis der Prüfung plädiert Dr. Pantazis dafür, dass die Fahrerlaubnis behördlich entzogen werden sollte, aber: "Es ist wichtig, dass diese Maßnahme nicht als Einschränkung oder Diskriminierung, sondern als Schutz und Unterstützung betrachtet wird, um die Unfallgefahr auf den Straßen zu minimieren. Indem wir die Verkehrssicherheit fördern, schützen wir die Gesundheit aller Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer."
Um Senioren die freiwillige Abgabe ihrer Fahrerlaubnis zu erleichtern, schlägt er verschiedene Anreize vor. Dazu gehören ein gut ausgebauter öffentlicher Nahverkehr und eine gute Erreichbarkeit von Bus- und Bahn-Haltestellen. Zudem könnten preiswerte Tarife für Senioren attraktiv sein. "Eine Idee wäre beispielsweise ein finanzieller Zuschuss zum Deutschland-Ticket für alle älteren Menschen, die ihre Fahrerlaubnis freiwillig abgeben", so Pantazis.
Frauke Heiligenstadt (SPD)
Frauke Heiligenstadt hält die derzeitigen Regelungen für ausreichend und bezieht sich auf den Unfall in Bad Harzburg: "Nein, ich sehe momentan keinen Handlungsbedarf, denn der Führerschein der Fahrerin wurde sichergestellt und die Ermittlungen aufgenommen. Das zeigt, dass die derzeitigen Regelungen es ermöglichen auf konkrete Einzelfälle einzugehen. Einen darüberhinausgehenden Handlungsbedarf sehe ich nicht."
Carsten Müller (CDU)
Carsten Müller lehnt strenge EU-Vorgaben ab: "Die Pläne der EU-Kommission, nach denen für Menschen ab 70 Jahren strengere Regeln beim Führerschein gelten sollen und die eine obligatorische Überprüfung der Fahrtauglichkeit alle fünf Jahre ab dem 70. Lebensjahr vorsehen, lehne ich ab."
Eine anlasslose und damit nicht nachvollziehbare Infragestellung der Fahrtauglichkeit aller über 70-Jährigen hält er für unverhältnismäßig. Durch eine solche Überprüfung werde eine ganze Generation unter Generalverdacht gestellt. Eine Vielzahl von Sicherheitsstatistiken und Untersuchungen zeigten, dass Mitbürger über 65 Jahre bei Unfällen mit Personenschäden unterdurchschnittlich häufig beteiligt seien. So hätte der Anteil derselbigen an Unfällen im Jahr 2021 14,5 Prozent betragen, hingegen mache diese Personengruppe einen Bevölkerungsanteil von 22,1 Prozent aus.
"Daher sollte bezüglich der geplanten EU-Richtlinie eine Subsidiaritätsrüge erhoben werden, um einen solch weitgehenden Eingriff in die persönliche Freiheit des Einzelnen zu verhindern," so Müller: "Als Beitrag für eine höhere Verkehrssicherheit fände ich für alle Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrsteilnehmer - und Altersgruppen unabhängig – hingegen eine Teilnahme am Fahrsicherheitstrainings für sinnvoll."
Hubertus Heil (SPD)
Hubertus Heil spricht in Bezug auf den Unfall von einer Tragödie. Da er noch vor Ende der polizeilichen Ermittlungen angefragt wurde, wollte er sich aber lieber allgemein äußern: "Grundsätzlich gibt es natürlich Fälle, bei denen aus medizinischen Gründen keine Fahrtauglichkeit mehr gegeben ist. Dies kann aber nicht nur aufgrund des Alters des Fahrzeugführers oder der Fahrzeugführerin der Fall sein, sondern z.B. auch aus medizinischen Gründen. In der aktuell laufenden europäischen Debatte über die 4. Führerscheinrichtlinie wird es daher darauf ankommen, generelle Anforderungen an die Fahrtauglichkeit zu definieren, die für alle Altersgruppen gelten. Die EU-Kommission hat Anfang März einen Vorschlag dazu vorgelegt."
Der Vorschlag der EU-Kommission sehe einen medizinischen Check zur Verlängerung des Führerscheins vor. Hausärzte seien sicherlich am besten in der Lage, die Fahrtüchtigkeit aus medizinischer Perspektive zu beurteilen, so Heil: "Die Details des Vorschlags müssen dann sorgfältig geprüft werden, wenn es soweit ist."
Dort müsse auch geklärt werden, ob ein Führerschein eingezogen werden soll, wenn eine Überprüfung negativ ausfällt: "Grundsätzlich liegt es in der Eigenverantwortlichkeit aller Verkehrsteilnehmerinnen und -teilnehmer, ihre Fahrtüchtigkeit selbst zu beurteilen und das Auto im Zweifel stehen zu lassen."
Klar sei für ihn, welche Anreize man schaffen müsse, um den Menschen eine freiwillige Abgabe zu erleichtert. Heil dzau: "Bei uns im ländlichen Raum ist die Erreichbarkeit von Ärzten, Bäckern und Einkaufmöglichkeiten Grundvoraussetzung, um auch im Alter ein selbst bestimmtes Leben führen zu können. Deswegen sind ein gut ausgebauter und barrierefreier öffentlicher Personennahverkehr und moderne Mobilitätskonzepte notwendig, um die Mobilität aller Menschen sicherzustellen."
Frank Bsirkse (Grüne)
Frank Bsirske ist alarmiert: "Solche schrecklichen Verkehrsunfälle müssen möglichst verhindert werden. Die aktuellen Unfallzahlen zeigen, dass immer noch zu viele Menschen im Straßenverkehr sterben. Besonders gefährdet sind Personen, die Rad fahren oder zu Fuß gehen. Daher ist es gut, dass die EU-Kommission sich des Themas Verkehrssicherheit und Fahrtauglichkeit annimmt. Statistiken zeigen, dass Autofahrer*innen mit einem sehr hohem Lebensalter ein deutlich erhöhtes Risiko haben einen Unfall zu verursachen."
Andere EU-Staaten, wie die Niederlande, Italien, Schweden und Spanien, seien bereits dazu übergegangen, Autofahrer ab einem bestimmten Alter regelmäßig zum Gesundheitscheck zu bitten. Die Überprüfungsintervalle werden dabei mit zunehmendem Alter sukzessiv immer kürzer.
Laut Bsirkse sollte geprüft werden, ob und wie die in anderen Ländern gesammelten Erfahrungen zur Überprüfungen der Fahrtauglichkeit auch in Deutschland genutzt werden können. Abschließen hält er fest: "Die Sicherheit von besonders gefährdeten Verkehrsteilnehmenden, wie Fahrradfahrer*innen und Kindern, hat im Straßenverkehr eine besonders hohe Bedeutung."
Anikó Glogowski-Merten (FDP)
Anikó Glogowski-Merten warnt vor Pauschalisierungen: "Der alleinige Vorwurf, dass ältere Menschen häufiger Hauptverursacher von Verkehrsunfällen sind, entbehrt jeder Grundlage und rechtfertigt keine pauschalen Maßnahmen, die sich an einem beliebig festgelegten Alter orientieren. Ein Blick auf die Fakten zeigt, dass sich solche pauschalen Zusammenhänge nicht herstellen lassen. Demnach ist das Risiko für Senioren, mit dem Auto zu verunglücken, zwischen 1980 und 2021 um fast sechs Prozent gesunken, während die Lebenserwartung gestiegen ist."
Von der Idee, dass sich Senioren ab einem bestimmten Alter ohne weiteren Anlass regelmäßig einem Tauglichkeitstest unterziehen müssen, halte sie gar nichts. Pauschale und verpflichtende Maßnahmen für Autofahrer über 70 Jahre, wie es derzeit auch die EU-Kommission vorschlägt, seien völlig unverhältnismäßig. "Ab einem bestimmten Alter fährt man nicht per se sicherer oder unsicherer. Unbestritten ist und bleibt: Mobilität ist Teilhabe. Statt Pauschalität sind Verhältnismäßigkeit, Augenmaß und individuelle Möglichkeiten gefragt. Freiwillige Auffrischungskurse sind ein Beispiel dafür", so Glogowski-Merten.
Die Fahrer sollten eigenverantwortlich handeln, die Bundestagsabgeordnete dazu: "Als Liberale setze hier ganz klar auf die Eigenverantwortlichkeit. Verpflichtende Gesundheitstests, wie sie der EU vorschweben, lehne ich ab. Eine Möglichkeit sehe ich hingegen in freiwilligen Auffrischungskursen."
Für sie bliebe festzuhalten: "Ältere Autofahrerinnen und Autofahrer sind in ihrer großen Mehrheit vorausschauend unterwegs und meiden riskante Fahrmanöver, was auch die Unfallstatistiken zeigen. Mit freiwilligen Auffrischungskursen, die ich im Übrigen nicht erst im fortgeschrittenen Alter für sinnvoll halte, lassen sich etwaige Unsicherheiten schnell identifizieren."
Victor Perli (Linke)
Victor Perli (Linke) ist sich sicher: "Die Verkehrssicherheit muss generell eine höhere Aufmerksamkeit bekommen, um alle Verkehrsteilnehmer zu schützen. Es braucht für alle Altersklassen mehr Angebote zur freiwilligen Überprüfung und Förderung der Fahrtauglichkeit, auch zur Schulung für aktive Fahrerinnen und Fahrer, um neue Regelungen und Verhaltensweisen kennenzulernen."
Senioren seien statistisch gesehen nicht die schlechteren Autofahrer. Im hohen Alter würden aber die Risiken deutlich zunehmen. "Ich befürworte eine gesetzliche Verpflichtung, die Fahrtauglichkeit ab einem gewissen Alter alle paar Jahre durch einen Gesundheitscheck zu prüfen", so Perli.
Senioren, die ihren Führerschein abgeben, sollten ein lebenslanges kostenloses Freiticket für den öffentlichen Nahverkehr bekommen, so der Bundestagsabgeordnete. Mit dem kürzlich eingeführten 49-Euro-Ticket ließe sich das bundesweit einfach umsetzen. Notwendig sei auch der Ausbau der ÖPNV-Angebote vor allem in ländlichen Gegenden. "Niemand soll sich und andere in Gefahr bringen müssen, weil er keine Alternative zum Auto hat", gibt Perli zu bedenken.
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