Niedersachsen. Am 9. Oktober 2022 haben die Niedersachsen einen neuen Landtag gewählt, doch das Ergebnis wurde angefochten. Eine Entscheidung, ob die Wahl möglicherweise wiederholt werden muss, steht weiterhin aus.
Insgesamt 22 Wahleinsprüche sind gegen die Wahl an sich oder deren Ergebnis beim Wahlprüfungsausschuss des Landtages eingegangen. An sich kein ungewöhnlicher Vorgang, wie der Vergleich zu vergangenen Wahlen zeigt. Ein Einspruch erfährt jedoch besondere mediale Aufmerksamkeit. Dieser kommt aus den Reihen der an der 5-Prozent-Hürde gescheiterten FDP und richtet sich gegen die Wahlzulassung der AfD. Nach einer am Freitag erfolgten Antwort der Landesregierung zum Handeln der Landeswahlleiterin sehen sich die Beschwerdeführer bestärkt und auch für Niedersachsens ehemaligen Innenminister Uwe Schünemann (CDU) ist die Sache damit noch nicht vom Tisch.
Hat die AfD einen eklatanten Formfehler gemacht?
Der Rechtsanwalt und ehemalige FDP-Landtagsabgeordnete Dr. Marco Genthe hat gemeinsam mit dem Verfassungsrechtler und ehemaligen Mitarbeiter der FDP-Landtagsfraktion Alexander Grafe im November Einspruch gegen die Landtagswahl eingelegt. Sie beklagen, dass die AfD Plätze auf ihrer Landeswahlliste gegen Zahlung eines Betrages in eine sogenannte "Kriegskasse" verkauft haben soll. Dabei beziehen sie sich auf Aussagen des ehemaligen AfD-Mitgliedes Christopher Emden, die dieser in einem Interview mit dem ZDF getätigt hatte.
Des Weiteren führen Genthe und Grafe an, dass die AfD Formfehler bei der Listenaufstellung begangen haben soll. So habe die Partei Delegierte über die Landesliste abstimmen lassen, ohne hierfür jedoch die Legitimation der Parteibasis eingeholt zu haben. Im Gegenteil, ein Vorschlag zur Durchführung der parteiinternen Wahl im Delegiertensystem sei sogar explizit abgelehnt worden. Es sei völlig unklar und dürfe sogar angezweifelt werden, inwieweit überhaupt Delegiertenwahlen in den einzelnen Kreisverbänden stattgefunden haben und ob insoweit demokratisch Grundsätze beachtet worden sind.
Würden diese Vorwürfe zutreffen, so sei der Landeswahlvorschlag der AfD unwirksam aufgestellt worden und damit die Landtagswahl vom 9. Oktober 2022 nach Ansicht von Genthe und Grafe ungültig. Die AfD hatte hierbei 18 Mandate - alle über die Landesliste - erlangt. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Zusammensetzung des Landtages ohne AfD-Beteiligung anders erfolgt wäre.
Das sagt die AfD zu den Vorwürfen
Die AfD in Niedersachsen sieht dem Wahleinspruch gelassen entgegen und weist die Vorwürfe von sich. Auf Anfrage von regionalHeute.de teilt der Landesverband mit: "Die von Ihnen angefragten Vorgänge sind in jeder Weise formal korrekt abgelaufen. Das haben Schiedsgerichte, ordentliche Gerichte, Gutachter und schließlich die Landeswahlleiterin bestätigt. Ein aktuelles Rechtsgutachten von Professor Michael Elicker, Hochschullehrer für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität des Saarlandes vom 29. Januar bezeugt dies ein weiteres Mal: ‚Die Einsprüche gegen die Gültigkeit der Wahl zum Niedersächsischen Landtag vom 9. Oktober von Herrn Marco Genthe und Herrn Alexander Grafe sind unzulässig und unbegründet', heißt es dort. Daher erübrigt sich ein detailliertes Eingehen auf Ihre Fragen." Ein angefragtes Protokoll zum Parteitag, dass das Delegiertensystem möglicherweise hätte beschließen müssen, stellte man uns nicht zur Verfügung.
Und auch vom damaligen AfD-Spitzenkandidaten und heutigen Fraktionsvorsitzenden Stefan Marzischewski-Drewes erhielten wir dieses nicht. Er sieht eine von CDU und FDP geführte Kampagne gegen die AfD laufen. "Im August hat der Landeswahlausschuss in Niedersachsen über die Zulassung der Landeslisten beraten. Nur zwei Landeslisten wurden ohne jegliche Streichung von Kandidaten und Einwendungen zugelassen. Die Landesliste der SPD und AfD!", unterstreicht er die Rechtmäßigkeit der Wahl. Der AfD-Landesverband Niedersachsen habe im April 2022 eine Briefwahl zur Benennung von Kandidaten für die Landesliste durchgeführt. Bei dieser habe er als einziger von über 70 Kandidaten das Quorum erfüllt. "Ich bin also in einer Urwahl der Basis zum Spitzenkandidaten gekürt worden. Die Delegiertenversammlung hat mich im Juli mit 90 Prozent ebenfalls zum Spitzenkandidaten gewählt", so Marzischewski-Drewes. Auf die Fragen, ob der Parteitag der AfD über ein Delegiertenwahlsystem zur Aufstellung der Landesliste zur Niedersächsischen Landtagswahl 2022 abgestimmt habe und falls ja, wann und wie das absolute Abstimmungsergebnis war, antwortet er nicht. Ebensowenig auf die Frage, ob er Geld in eine "Kriegskasse" eingezahlt habe.
Marzischewski-Drewes fügt stattdessen hinzu: "FDP und CDU müssten eine Wahlwiederholung fürchten, da sie zurecht weiter vom Wähler abgestraft werden. Ich dagegen stelle mich gerne jederzeit meinen Mitgliedern aber auch den Wählern in Niedersachsen zur Wahl. Die AfD und ich brauchen keine Wiederholungswahl in Niedersachsen zu fürchten. Ein Wahlziel von 20 Prozent plus X ist dabei realistisch."
Was wusste die Landeswahlleiterin?
Was ist also tatsächlich dran an den Vorwürfen und wurden diese von der Landeswahlleiterin im Vorfeld der Niedersachsenwahl ausreichend geprüft? Diesen Punkt möchte der CDU-Landtagsabgeordnete und ehemalige Niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann geklärt wissen. Mit einer sogenannten Kleinen Anfrage wandte er sich dafür an die Landesregierung. Hier interessierte ihn, zu welchem Zeitpunkt die Landeswahlleiterin welche Hinweise zum Aufstellungsverfahren des Landeswahlvorschlages der AfD hatte und wie diese bewertet wurden. Zudem fragte er, welche konkreten Maßnahmen die Landeswahlleiterin unternommen habe, um sicherzustellen, dass der eingereichte Landeswahlvorschlag der AfD rechts- und verfassungsgemäß zustande gekommen ist.
Auf beide Fragen erhielt Schünemann von der Landesregierung keine Antwort. Diese merkte dazu allerdings an, dass die Landeswahlleiterin außerhalb des Verantwortungsbereichs der Landesregierung steht und als unabhängiges Wahlorgan selbständig in ihren Entscheidungen sei. Sie unterliege keiner staatlichen Kontrolle, sondern nur einer im Rahmen eines Wahlprüfungsverfahrens. "Ebenso wenig wie die Landesregierung ein Weisungsrecht gegenüber der Landeswahlleiterin hat, verfügt die Landesregierung angesichts der der Landeswahlleiterin zukommenden Unabhängigkeit über die erforderlichen Einwirkungsrechte, um Kenntnisse über die Entscheidungen der Landeswahlleiterin und die Abläufe in der Dienststelle der Landeswahlleiterin bei der Wahlvorbereitung und -durchführung zu erlangen", erklärt man in der Antwort.
Für Schünemann ist die Sache damit nicht vom Tisch. Auf Anfrage von regionalHeute.de, wie er nach dieser Antwort weiter verfahren werde, teilt er mit: "Bereits im Vorfeld der Wahlzulassung hat es Veröffentlichungen über Unzulänglichkeiten bei den Landesvorstandswahlen der AfD gegeben und eine schriftliche Äußerung eines AfD-Mitglieds über Rechtsverstöße bei der Listenaufstellung an die Landeswahlleiterin gegeben. Es bleibt offen, ob die Landeswahlleiterin diesen Hinweisen konsequent nachgegangen ist und insbesondere den Wahlausschuss entsprechend ausführlich darüber informiert hat. Ich werde die Landeswahlleiterin in einem Brief um entsprechende Aufklärung bitten."
Was passiert hinter den Kulissen?
Marco Genthe sieht in der Nichtantwort der Landesregierung auf "entscheidende Fragen" und die lange Dauer von vier Wochen, die es dafür gebraucht hat, eine Bestätigung. "Daraus lässt sich schließen, dass sich das Ministerium bereits politisch von der Landeswahlleiterin absetzt, um nicht selber beschädigt zu werden. Offenbar wird hinter den Kulissen immer deutlicher, dass im Vorfeld der Landtagswahl eklatante Fehler gemacht worden sind. Die innere Ordnung von Parteien muss demokratischen Grundsätzen entsprechen – so verlangt es zurecht unsere Verfassung (Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG). Auch die Landesregierung verweist in ihrer Antwort auf diesen Grundsatz. Die Landeswahlleiterin hat es aber versäumt, das verfassungsgemäße Zustandekommen der AfD-Liste zu überprüfen. Es wird auch zu überprüfen sein, ob dem Landeswahlausschuss alle notwendigen Unterlagen durch die Wahlleitung vorgelegt wurden, damit dieser überhaupt eine rechtssichere und abschließende Entscheidung treffen konnte. Offenbar soll aber nun mit dem Argument der Unabhängigkeit die Landeswahlleiterin zumindest politisch alleine für eine notwendige Wiederholungswahl verantwortlich gemacht werden."
Ob die Landtagswahl in Niedersachsen rechtmäßig war oder tatsächlich wiederholt werden muss, bleibt vorerst offen. Der Wahlprüfungsausschuss wird erstmalig voraussichtlich Anfang bis Mitte April zusammenzukommen. Das erklärt dessen Vorsitzender André Bock (CDU) auf Anfrage von regionalHeute.de. Dass das erst so viele Monate nach der Wahl geschieht, ist zunächst mit rechtlichen Fristen sowie der vorbereitenden Auseinandersetzung mit den Einsprüchen zu begründen. So würden bereits im Vorfeld der Sitzung Stellungnahmen von unterschiedlichen Seiten eingeholt und juristisch bewertet werden. Die Landeswahlleiterin habe für ihre Stellungnahme um eine Verlängerung gebeten.
André Bock geht davon aus, dass sich der Prozess bis zu einer abschließenden Empfehlung des Wahlprüfungsausschusses mehrere Monate hinziehen wird. Neben einigen einfach zu beratenden Einsprüchen gebe es eben auch den von Marco Genthe und Alexander Grafe öffentlich gewordenen Einspruch, der "sicherlich einige Zeit in Anspruch nehmen wird", so Bock. Der Wahlprüfungsausschuss wird am Ende eine Empfehlung aussprechen, über die die Landtagsabgeordneten dann im Plenum beraten müssen. Es ist davon auszugehen, dass egal wie das Ergebnis dann ausfällt, Klage dagegen erhoben wird. Die nächste reguläre Wahl steht im Herbst 2027 an.
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