Paris. Der Philosoph Peter Sloterdijk begrüßt den Vorstoß des französischen Präsidenten Emmanuel Macron, Neuwahlen zur Nationalversammlung auszurufen.
Im Gegensatz zu anderen Staats- und Regierungschefs, die sich wie Marionetten verhielten, an denen das Wählervolk die Strippen ziehe, habe Macrons Entscheidung zwar eine Schockwirkung ausgelöst, aber dieser Schock könne nützlich sein, sagte Sloterdijk der Wochenzeitung "Die Zeit". Es gebe zu viel unpolitischen, doch politisierten Trotz, der durch mediale Belohnung hochgefahren werde. "Es ist richtig, weil Macron den Wählern ihre eigene Verantwortungslosigkeit vor die Füße wirft", so Sloterdijk.
Der Philosoph lehrt in diesem Jahr als Gastprofessor am renommierten Collège de France und hält dort Vorlesungen über Europa. Auch Macron schätzt den deutschen Philosophen. Bei einem persönlichen Treffen der beiden, so berichtet Sloterdijk, habe ihm Macron gesagt, beim Vorschlag zur Entsendung von Bodentruppen in die Ukraine sei es nicht darum gegangen, eine militärische Eskalation auszulösen, sondern darum, die "strategische Ambiguität" wiederherzustellen.
Darin zeige sich der Unterschied zur ängstlichen Blanko-Scheck-Politik, mit der Scholz seinem Gegner signalisiert: Ihr könnt machen, was ihr wollt, weitreichende Waffen geben wir unseren Schützlingen nicht, damit man hinterher nicht behaupten kann, die Deutschen seien Kriegspartei. "Scholz gleicht dem Hund, den man zum Jagen tragen muss."
Während der Nachkriegszeit habe Europa das Privileg gehabt, in einer Art Schlummer, einem Halbschlaf vor sich hinzudämmern, ohne sich über kriegerische Risiken weitere Gedanken zu machen, sagte Sloterdijk. Europa erwache, weil es verstanden habe, dass es ohne den Schutz der USA noch nicht sein könne, und auch der nicht mehr unbedingt garantiert sei. Die geborgte Sicherheit müsse früher oder später zurückgezahlt und durch glaubhafte Eigenleistungen ersetzt werden.
"Wir holen jetzt die Wende nach, die 2014 hätte stattfinden müssen - das war das eigentliche Wendejahr, das die Wende schuldig blieb", sagte Sloterdijk, der damit auf die Krim-Krise verwies, auf die Europa damals zu wenig reagiert habe. "Diese europäische Traumzeit ist jetzt vorbei."
Von FDP-Chef Christian Lindner fordert Sloterdijk nach den Ergebnissen bei der Europawahl, die Ampel-Koalition von sich aus zu beenden. Die Ampelparteien SPD, Grüne und FDP waren zusammen auf kaum mehr Stimmen als die CDU/CSU gekommen. Lindner könne die Koalition mit einem einfachen Selbstzitat aufkündigen, das noch in aller Munde sei und viele im Ohr haben, sagte Sloterdijk in Anspielung auf Lindners Satz aus dem Jahr 2017, es sei besser, nicht zu regieren als falsch zu regieren. Wer solch ein klassisches Bonmot zu verantworten habe, sollte sich nach Möglichkeit daran halten. "Er könnte damit eine riesige kollektive Frustration beenden, gerade jetzt nach der Europawahl, wo die Freien Demokraten nicht so weit abgestürzt sind, wie viele geglaubt hatten."
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