Region. Vor fast 78 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. In den Jahrzehnten danach schwand immer mehr die Gefahr neuer globaler kriegerischer Eskalationen oder, besser gesagt, das allgemeine Bewusstsein dafür. Bis zu dem Tag, als Russland im Februar 2022 mitten in Europa einen Angriffskrieg auf die Ukraine begann. Seitdem ist Deutschland in Aufruhr und die Angst, dass der Krieg auch auf Deutschland übergeht, steigt in der Bevölkerung. Ist diese Angst berechtigt und wer soll unser Land angesichts der ausgesetzten Wehrpflicht verteidigen?
Die Frage, ob eine reelle Gefahr besteht, dass Russland einen Angriffskrieg gegen Deutschland führen könnte, beantworten die von regionalHeute.de befragten Bundestagsabgeordneten in der Region Braunschweig-Wolfsburg uneinig. Karoline Otte und Frank Bsirske (beide Bündnis90/Die Grünen) sowie Carsten Müller (CDU) und Christos Pantazis (SPD) sagen deutlich, dass sie keine konkrete Kriegsgefahr sehen.
"Die Entfesselung eines Atomkrieges käme einer Selbstvernichtung gleich"
"Es besteht praktisch universelle Zustimmung in Fachkreisen, dass keine akute Gefahr vor einem russischen Angriffskrieg auf Deutschland besteht und auch in Zukunft dieses Szenario höchst unrealistisch ist", sagt Karoline Otte, Abgeordnete für den Wahlkreis Goslar-Northeim-Osterode. Sie vertraue hier auf das Urteil von Experten aus ihrer und anderen Bundestagsfraktionen. Bürger müssten sich in der vorhersehbaren Zukunft keine Sorgen um einen direkten russischen Angriff machen.
Auch ihr Parteikollege Frank Bsirske sieht keine Gefahr eines Kriegsausbruches in Deutschland. "Was Russland in der Ukraine erlebt, ist kein Erfolgsmodell, das zur Nachahmung gegen NATO-Staaten einlädt, sondern ein Desaster und das nicht zuletzt auch auf militärischem Gebiet", so Bsirske. Es sei für ihn nicht erkennbar, wie Russland bei einem Rüstungswettlauf mit den NATO-Staaten auch nur annähernd mithalten könne. "Die Entfesselung eines Atomkrieges käme einer Selbstvernichtung gleich", so der Bundestagsabgeordnete für den Wahlkreis Helmstedt-Wolfsburg.
Der Braunschweiger Abgeordnete Carsten Müller sieht Deutschland aufgrund der NATO-Zugehörigkeit auf der sicheren Seite. "Ein solcher Angriff würde den NATO-Bündnisfall auslösen. Diesen Konflikt, mit möglicherweise katastrophalen Folgen über die beteiligten Staaten hinaus, kann selbst die Führung im Kreml nicht provozieren wollen. Der Zusammenhalt aller NATO-Staaten ist gegenwärtig der beste Schutz vor einem imperialistisch aggressiv auftretenden Russland", sagt er.
Auch Christos Pantazis, direkt gewählter Abgeordnete für Braunschweig, sieht die NATO als Garant dafür, dass Deutschland keinen Krieg im eigenen Land fürchten muss. "Denn mit der NATO wird Putin sich nicht anlegen", ist sich Pantazis sicher. Seiner Einschätzung nach sei das Risiko ins "Fadenkreuz Russlands zu geraten" gering. Deutschland halte sich an drei Grundregeln: "Erstens: Die in unserer Verfassung festgelegte Landesverteidigung darf durch Waffenlieferungen an die Ukraine in keiner Weise gefährdet sein. Zweitens: Unsere Bündnisverpflichtungen innerhalb der Nato dürfen nicht gefährdet werden. Wir gewährleisten, dass wir die Außengrenzen der Nato im Osten weiterhin sichern. Dies ist eine große Verantwortung, der wir selbstverständlich nachkommen. Drittens: Beim Liefern schwerer Waffen an die Ukraine gibt es keine Alleingänge, sondern diese Entscheidungen werden im internationalen Verbund und nur gemeinsam mit unseren Bündnispartnern getroffen. Bundeskanzler Olaf Scholz hat eine internationale Panzerallianz geschmiedet", so Pantazis.
"Es gibt keine Gewissheit"
Die direkt gewählte SPD-Bundestagsabgeordnete im Wahlkreis Salzgitter-Wolfenbüttel, Dunja Kreiser, versucht der Frage, ob sie eine reelle Kriegsgefahr für Deutschland sieht, offenbar auszuweichen. Statt einer konkreten Antwort lobt sie Bundeskanzler Olaf Scholz für seine "Besonnenheit", auf die man vertrauen könne. "Der Kanzler hat die Lage im Griff, er weiß, was er tut", so Kreiser.
Ganz anders antwortet ihre Parteikollegin Frauke Heiligenstadt. "In dieser sogenannten 'Zeitenwende' gibt es keine Gewissheit", sagt die Bundestagsabgeordnete aus dem Wahlkreis Goslar-Northeim-Osterode. "Deshalb müssen wir die Situation und die Bedrohung, die von Russland ausgeht, sehr ernst nehmen und uns weiterhin gemeinsam mit unseren Verbündeten und Partnern abstimmen und absichern. Alles andere erhöht die Eskalationsgefahr. Das wäre unverantwortlich. Wir müssen dafür sorgen, dass zwischen dem Krieg Russlands und der Ukraine kein Krieg zwischen Russland und der NATO entsteht", fügt Heiligenstadt hinzu.
Wie die FDP-Bundestagsabgeordnete Anikó Glogowski-Merten aus Braunschweig die Gefahr eines Krieges gegen Deutschland einschätzt, beantwortet auch sie nicht konkret. Die Zeile "Als Europäer sehen wir uns mit neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen konfrontiert, die es unter anderem notwendig machten, für die Bundeswehr ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro bereitzustellen", lässt jedoch Raum für die spekulative Interpretation einer durchaus bestehenden Gefahr.
Doch sollte es zu einem Krieg gegen Deutschland kommen, wie sehen unsere Bundestagsabgeordneten dann die Verteidigung Deutschlands aufgestellt? Hier wird schnell klar, dass man sich auf das NATO-Verteidigungsbündnis verlässt. Der Zusammenschluss aus 30 Mitgliedsstaaten hat vertraglich vereinbart, dass ein Angriff gegen einen der Bündnispartner, ein Angriff gegen alle ist. Ein Automatismus der Verteidigung besteht hierdurch jedoch ebenso wenig, wie die Festlegung von Maßnahmen und deren Umfang. In der Geschichte der NATO wurde der Bündnisfall bisher einmalig nach den Terrorakten vom 11. September 2001 in den USA ausgelöst.
"Deutschland nur bedingt verteidigungsfähig"
Christos Pantazis sieht Deutschland selbst aktuell nur bedingt verteidigungsfähig. Schuld daran tragen seiner Ansicht nach die Bundesverteidigungsministerinnen und -minister der letzten 16 Jahre, Herr zu Guttenberg, Herr de Maizière, Frau von der Leyen und Frau Kramp-Karrenbauer durch - so Pantazis - administrative und politische Fehlentscheidungen. "Die Fortschrittskoalition hat Ende 2021 kein gut geführtes Haus übernommen und wir müssen feststellen, dass die Defizite aufgrund der mangelhaften Leitung in den vergangenen Jahren gravierend sind. Als Beispiele möchte ich hier lediglich das miserable Beschaffungsmanagement, massive Probleme bei der Einsatzbereitschaft unserer Hauptwaffensysteme und das Aussetzen der Wehrpflicht nennen", so Pantazis. Vor diesem Hintergrund habe Bundeskanzler Olaf Scholz die Zeitenwende ausgerufen und man habe das Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr auf den Weg gebracht, um diese wieder umfassend und modern auszustatten. Pantazis gibt aber auch zu bedenken, dass man zu gegebener Zeit darüber beraten müsse, ob die 100 Milliarden Euro dafür ausreichen. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Carsten Müller kritisiert hingegen, dass der Einrichtung des Sondervermögens und der "'Zeitenwende'-Rhetorik" bislang keine Taten gefolgt seien und man dies als CDU/CSU einfordere.
Rückkehr zur Wehrpflicht?
Doch was nützt einem all das Geld für Ausstattung, wenn man am Ende keine Soldaten hat, die den Feind bekämpfen können? Über 183.000 Berufssoldaten, Zeitsoldaten und Freiwillig Wehrdienstleistende - Männer wie Frauen - zählt die Bundeswehr nach aktuellen Angaben auf ihrer Website. Reicht das aus, oder müssen wir in Deutschland womöglich zur Wehrpflicht zurückkehren?
"Eine Wiedereinführung der Wehrpflicht würde viele Themen aufwerfen. Wir hatten zuletzt um die 9.200 freiwillig Wehrdienstleistende pro Jahr. Wenn die Wehrpflicht wieder eingeführt würde, würde es wesentlich mehr Wehrdienstleistende geben. Es stellt sich dann die Frage nach der Wehrgerechtigkeit oder nach einer Wehrpflicht auch für Frauen. Weiterhin wäre zu klären, wo Kasernen neu- bzw. ausgebaut werden, wo Ausbilder, Ausrüstung und Munition herkommen und wie das Ganze überhaupt finanziert werden soll. Dieser Prozess kostet nicht nur sehr viel Zeit, sondern auch sehr viel Geld. Man muss bedenken, dass die Aussetzung der Wehrpflicht unter völlig anderen Rahmenbedingungen erfolgte", sagt etwa Frauke Heiligenstadt.
Anikó Glogowski-Merten schließt die Rückkehr zur Wehrpflicht gänzlich aus. "Wir werden alles dafür tun, dass die Bundesrepublik ihrer sicherheitspolitischen Verantwortung gerecht wird. Eine Wiedereinführung der Wehrpflicht ist dabei für die FDP-Fraktion und mich ausgeschlossen. Die gesamte Debatte ist unzeitgemäß und eine Wiedereinführung würde zu Lasten der jungen Generation gehen. Stattdessen muss es unser Ziel sein, die Bundeswehr als Arbeitgeber attraktiver zu machen und den sicherheitspolitischen Herausforderungen angemessen auszustatten. Wir brauchen keine Scheindebatte über die Wehrpflicht, sondern darüber, wie wir die Bundeswehr professionell und bündnisgerecht stärken", sagt sie.
Und auch für die Grünen-Abgeordneten Karoline Otte und Frank Bsirske kommt eine Wehrpflicht nicht in Betracht. "Ich halte die Forderung nach einer Rückkehr zur Wehrpflicht für realitätsfern. Sowohl der neue Verteidigungsminister Pistorius als auch der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, betonen, dass die Bundeswehr auf besseres Material und teils hoch spezialisierte Fachkräfte angewiesen ist. Eine Wehrpflicht würde hierbei nicht helfen, sondern lediglich Ressourcen verbrauchen, die besser eingesetzt werden können", so Otte. "Angesichts der Komplexität heutiger Waffentechnik braucht es Spezialisten. Und angesichts des akuten Fachkräftemangels in unserer Wirtschaft würden die jungen Nachwuchskräfte dort fehlen, wenn sie für 12 bis 18 Monate dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt entzogen würden", meint Bsirske, der eine Wehrpflicht für nicht zielführend hält.
"Wehrpflicht nicht kategorisch ausschließen"
Die SPD-Abgeordnete Dunja Kreiser spricht sich ebenso gegen eine Wehrpflicht "wie wir sie kennen" aus. "Unsere Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee von Spezialistinnen und Spezialisten. Besonders deutlich wird das bei der Frage der Cybersicherheit. Wir brauchen hoch ausgebildete Expertinnen und Experten, eine gut ausgestattete Berufsarmee", sagt sie. Parteikollege Christos Pantazis hingegen gibt sich als Befürworter der Wehrpflicht – "im Kontext einer Dienstpflicht im Allgemeinen" – zu erkennen. Er teilt die Ansicht von Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius, dass das Aussetzen der Wehrpflicht ein Fehler war. Zum jetzigen Zeitpunkt halte er eine Wiedereinführung jedoch für unrealistisch.
"Ich denke auch nicht, dass uns in der aktuellen Debatte die Wiedereinführung der Wehrpflicht in den kommenden Jahren weiterhelfen würde. Schließlich verfügen wir derzeit auch gar nicht über die Infrastruktur, um diese vielen jungen Menschen auszuwählen, auszustatten und unterzubringen. Oberste Priorität sollte sein, dass wir unsere Bundeswehr ertüchtigen, das Missmanagement beheben und die Liegenschaften in Stand setzen. Darin liegen die künftigen Herausforderungen, die zuerst angegangen werden sollten, bevor wir weiter über eine Wiedereinführung der Wehrpflicht diskutieren", findet Pantazis.
Auch CDU-Mann Carsten Müller schließt eine Debatte über die Wiedereinführung zu einem späteren Zeitpunkt nicht aus. Er sagt: "Eine Beendigung der Aussetzung der Wehrpflicht ist nicht zwingend erforderlich, denn die Bedienung von komplexen und kontinuierlich modernisierten Waffensystemen bedarf langer Ausbildungszeiten und ständigem Training, ich möchte sie jedoch auch nicht kategorisch ausschließen. Klar ist für mich: Die Bundeswehr braucht bestens ausgebildete, motivierte und hochprofessionelle Soldatinnen und Soldaten, die ihren Dienst verrichten und dafür von der Gesellschaft anerkannt und respektiert werden. Das erfordert eine gesamtgesellschaftliche Debatte und wir müssen viel stärker in den Blick nehmen, wie ausreichend gut qualifizierte Reservisten für die Bundeswehr gewonnen werden können. Sollte es sich herausstellen, dass nicht genügend Fachkräfte für die Bundeswehr gewonnen werden können, muss auch die Frage der Wehrpflicht neu diskutiert werden."
"Aufbau einer europäischen Streitmacht - einer Europaarmee"
Am Ende ist klar, dass in dieser "Zeitenwende" viele Fragen zur Verteidigung des Landes offen sind. Auch die, wie es mit der Verlässlichkeit des starken Partners USA aussieht, sollte 2024 Donald Trump erneut zum Präsidenten gewählt werden. In seiner ersten Amtszeit hatte er Deutschland für dessen geringe Verteidigungsausgaben sowie die Abhängigkeit von Russland stark kritisiert. Das Verhältnis zu den USA war angespannt.
"Gegenwärtig ist die Sicherheit in Europa nur schwer ohne die USA zu gewährleisten. Als Ziel halte ich es allerdings mit dem Bundeskanzler, dass wir ein geopolitisch souveränes und starkes Europa brauchen, wie es Olaf Scholz beispielsweise in seiner Prager Rede skizziert hat. Dafür braucht es eine Reform der Mehrheitsentscheidungen in der EU zu Fragen der Außenpolitik und eine solide europäische Rüstungsindustrie. Das ist das Ziel, dort sind wir aber noch nicht", sagt etwa Frauke Heiligenstadt. Für Anikó Glogowski-Merten steht fest: "Die USA sind dabei unser wichtigster bilateraler Bündnispartner und zwar unabhängig davon, wer als Präsident an ihrer Spitze steht. Wir werden alles dafür tun, dass die Bundesrepublik ihrer sicherheitspolitischen Verantwortung gerecht wird."
Christos Pantazis findet deutliche Worte, auch wenn er nicht mit einer erneuten Präsidentschaft Trumps rechnet. "Dennoch hat uns seine erste Präsidentschaft gezeigt, dass wir uns nicht grundsätzlich auf unseren transatlantischen Partner verlassen dürfen, sondern mehr Eigenverantwortung übernehmen sollten. Vor diesem Hintergrund halte ich es für wichtig, dass die Europäische Union auf der Verteidigungsebene noch enger zusammenarbeitet und wir unsere Verteidigung gemeinsam stärken. Wir sollten eine europäische Verteidigungsgemeinschaft mit Leben füllen, deren Ziel der Aufbau einer europäischen Streitmacht – einer Europaarmee – sein sollte."
Eine Richtung in die auch Karoline Otte tendiert: "Im Hinblick auf die transatlantischen Beziehungen gilt zurzeit, dass enge Zusammenarbeit - gerade in Verteidigungsfragen - jederzeit erstrebenswert ist. Dennoch muss Europa in einer unvorhersehbaren Welt aus einer Vielzahl von Gründen auch autonomer in seiner Verteidigungsfähigkeit werden."
Auch Hubertus Heil (SPD, Direktmandat Gifhorn-Peine) und Victor Perli (Linke, Listenmandat Salzgitter-Wolfenbüttel) haben wir zum Thema angefragt. Das Büro von Hubertus Heil teilte mit, dass dieser sich im Urlaub befände und man daher von einer Beantwortung absehe. Von Victor Perli erhielten wir trotz telefonischer Erinnerung an unsere Anfrage keine Reaktion.
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