Kreistag beschloss Einrichtung einer zweiten Gesamtschule an der Ravensberger Straße - "Jeder der heute seine Hand hebt, muss wissen, dass Schulstandorte im Landkreis gefährdet sein werden"

von Marc Angerstein


| Foto: Ado



[image=46007]Der große Sitzungssaal des Kreishauses war gut gefüllt, ungewöhnlich viele Zuschauer waren gekommen, überwiegend Eltern mit ihren Kindern - Schulpolitik stand auf der Tagesordnung: Der Kreistag hat in seiner vierstündigen Sitzung gestern Abend den Bedarf für die Errichtung einer zweiten Gesamtschule im Landkreis Wolfenbüttel festgestellt und die Kreisverwaltung beauftragt, Verhandlungen mit der Stadt Wolfenbüttel über die Nutzung des Schulgebäudes an der Ravensberger Straße aufzunehmen. Heute wird sich der städtische Schulauschuss mit diesem Thema erneut beschäftigen (WolfenbüttelHeute.de berichtete).

Der Landkreis Wolfenbüttel errichtet zum 1. August 2012 eine fünfzügige Gesamtschule als offene Ganztagschule in der heutigen Lessing-Realschule und beginnt mit der Beschulung der fünften Klassen im Schuljahr 2012/2013. Diesen Beschluss trafen die Mitglieder des Kreistages mehrheitlich mit 34 JA-Stimmen, fünf NEIN-Stimmen und zehn Enthaltungen. Zuvor nahm der Kreistag in einem eigenen Tagesordnungspunkt die Auswertung der Elternbefragung über den Bedarf einer zweiten Gesamtschule im Landkreis zur Kenntnis (WolfenbüttelHeute.de berichtete).

[image=5e1764b5785549ede64ccaae]"Heute beschließen wir lediglich eine zweite Gesamtschule - wir beschließen heute nicht die Schließung eines Schulzentrums."


Landrat Jörg Röhmann




Das Schulgebäude an der Ravensberger Straße soll, so sieht es der getroffene Beschluss nun vor, für die Nutzung durch eine Gesamtschule und deren Raumbedarf in den nächsten Jahren baulich erweitert und bedarfsgerecht ausgestattet werden. Dabei soll auch die Infrastruktur für eine angemessene Mittagsverpflegung und einer Ganztagsbeschulung der Schüler geschaffen werden. Die Kreisverwaltung wurde durch die Politiker beauftragt, entsprechenden Planungen vorzunehmen und eine Investitionssumme zu ermitteln.

Die fehlende Kostenanalyse war Thema in der Debatte zum Tagesordnungspunkt. Aber auch das fehlende oder unzureichende Schulentwicklungskonzept des Landkreises wurde von mehreren Rednern kritisiert, was den Landrat Jörg Röhmann schließlich auf den Plan rief: "Wie soll der Landkreis ein belastbares Schulentwicklungskonzept vorlegen, wenn im Landtag in Hannover alle Nase lang die schulpolitischen Rahmenbedingungen verändert werden?".



[image=5e1764af785549ede64cc98a]"Bald wird es keinen freien Elternwillen bei der Schulwahl im ländlichen Raum mehr geben, weil es schon in zehn Jahren im ländlichen Raum keine Schulen mehr geben wird."


Björn Försterling




Björn Försterling (FDP) lobte den Landrat dafür, dass er öffentlich zugegeben hat, kein Konzept zu haben. Allerdings könne der Landrat dafür weder den Landtag noch die Eltern, die ihre Kinder im Rahmen des freien Elternwillens an städtischen Schulen anmelden, verantwortlich machen, meinte der Liberale.

Das sieht auch Jörg Röhmann so und benannte als Beispiel die Samtgemeinde Asse: 56 Prozent aller Schüler würden von ihren Eltern auf ein städtisches Gymnasium geschickt. "Der Kreistag kann die Eltern auch künftig nicht überreden, ihre Kinder nicht auf das Gymnasium in Wolfenbüttel zu schicken, nur um eine Schule im ländlichen Raum zu erhalten."

Vor dem  Aussterben der Schulen im Gebiet des Landkreises warnte Försterling: "Die Schülerzahlprognose liegt uns allen doch vor. Im Schuljahr 2021/2022 werden im Landkreis noch 814 Schüler beschult. Wenn wir heute eine zweite Gesamtschule in Wolfenbüttel beschließen, bedeutet dies dass 300 Schüler Gesamtschulen besuchen und 450 Schüler die Wolfenbütteler Gymnasien. Dann bleiben nur noch 64 Schüler übrig, die nicht reichen, um die Schulen in Remlingen, Sickte, Schladen, Schöppenstedt und Baddeckenstedt zu erhalten", rechnet der FDPler vor. Ein Raunen geht durch das Publikum - machen sich doch zahlreiche Eltern Sorgen um den Erhalt ihrer nahegelegen Schule und um länger werdende Schulwege.



[image=5e1764b2785549ede64cca23]"Wolfenbüttel hat die zweitgrößte Nachfrageqoute für Gesamtschulen im Land Niedersachsen."


Marcus Bosse




Försterling erhielt aus Reihen der CDU Zustimmung, musste sich aber von den Sozialdemokraten Marcus Bosse und Falk Hensel vorwerfen lassen, eine Milchmädchenrechnung aufzumachen. Hensel verwies in seinem Redebeitrag darauf, dass derzeit auch Schüler in der Lessing-Realschule beschult werden, die zahlenmäßig berücksichtigt werden müssten, gestand aber auch Unzulänglichkeiten wegen des demografischen Wandels zu. Marcus Bosse erinnerte daran, dass der Elternwille schon vor der Einführung der ersten Gesamtschule zahlenmäßig für zwei gereicht hätte: "Wolfenbüttel hat die zweitgrößte Nachfrageqoute für Gesamtschulen im Land Niedersachsen." Aber auch Bosse meinte: "Jeder der heute seine Hand hebt - und ich werde das tun - muss wissen, dass Schulstandorte im Landkreis gefährdet sein werden."



[image=5e1764b5785549ede64ccab4]"Wir richten uns gerade ein gemütliches Wohnzimmer ein, obwohl der Rohbau unseres Hauses noch gar nicht fertig ist."


Frank Oesterhelweg




Zuvor hatte Frank Oesterhelweg (CDU) diese Ehrlichkeit gefordert: "Wer Gesamtschulen verspricht, sollte auch immer ehrlich sagen, dass dadurch Schulschließungen kommen werden." Oesterhelweg betonte, dass es sich die CDU mit dieser Entscheidung nicht  leicht gemacht hat, dass es aber bei der Entscheidung keinen Fraktionszwang gäbe. Er akzeptiere den Elternwillen, sähe aber auch dass die Verhandlungen mit der Stadt noch nicht abgeschlossen seien: "Wir richten uns gerade ein gemütliches Wohnzimmer ein, obwohl der Rohbau unseres Hauses noch gar nicht fertig ist." Andere Redner der Union sagten es sei kurz vor zwölf für die Landkreisschulen und die Stadt profitiere von der Entscheidung. Manfred Koch: "Obwohl in den Remlinger Schulstandort noch Millionen investiert worden sind, hat man sich wohl von der Haupt- und Realschule Remlingen geistig verabschiedet." Erneutes Raunen im Publikum.



[image=5e1764b1785549ede64cc9d6]"Die erste Gesamtschule macht Reklame für sich."


Berthold Brücher




Berthold Brücher (GRÜNE): "Die erste Gesamtschule in Wolfenbüttel macht Reklame für sich, deshalb ist es logisch, dass wir heute eine zweite Gesamtschule beschließen werden." Er sagte bezogen auf das fehlende Schulentwicklungskonzept und das Schulsterben im ländlichen Raum, dass auch die Stadt Wolfenbüttel schließlich zum Landkreis gehöre. Deshalb sei er für eine Stärkung des Schulstandorts Wolfenbüttel. Brücher warb aber auch dafür, in einer Schulentwicklungsplanung die Grenzen des Landkreises zu öffnen: "Warum dürfen Kinder nicht auch eine Schule besuchen, die außerhalb des Landkreises liegt?"

"Ich stimme zu, aber ich quicke nicht vor Freude", sagte Roland Kretschmer. Er kritisierte das Abitur-Monopol der Stadt Wolfenbüttel und auch den Modus der Elternbefragung: "Wenn Sie Kinder fragen, möchtet ihr in den Zoo Hagenbeck nach Hamburg oder in den Zoo nach Braunschweig Stöckheim fahren, ist die Antwort doch wohl vorauszusehen." Auch er sieht in der Entscheidung eine, zu Lasten des der Schulen im ländlichen Raum. "Aber mit der Elternbefragung ist der Fehler nun gemacht, wir kommen nicht mehr zurück."




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