Goslar. Das Ende des Zweiten Weltkrieges jährt sich am heutigen 8. Mai. zum 75. Mal. Die Goslarer Linke fordert, dass dieser Tag zum Feiertag erklärt wird; so wie der 25. April in Italien. In diesem Zusammenhang fordert Karsten Färber, Vorsitzender der Linken in Goslar, auch die Anbringung einer Info-Tafel am Grabmal des ehemaligen Reichsbauernführers Walter Darré auf dem alten Friedhof. Mit dieser Forderung steht Färber nicht allein da - der Streit um Nazi-Grabstätte dauert schon seit 1945 an. Initiativen, sie mit einer Beschilderung - auch um den Opfern des NS-Regimes auf dem Friedhof gerecht zu werden - zu dokumentieren, sind an der Politik gescheitert. Und seit 2000 wird der Erhalt des Gedenkmonumentes an den Wortführer der "Blut und Boden" Ideologie sogar aus Steuergeldern finanziert.
Für den in Argentinien geborenen Walther Darré stand auf der einen Seite der "aus bäuerlicher Wurzel stammende Arbeitsbegriff, der deutsch und arisch ist, der den Begriff der Arbeitsehre entwickelt hat, welcher aufgebaut ist auf dem Wissen und Können und welcher für den Bauern ebenso gilt wie für den Handwerker, den Unternehmer und den Kaufmann. Auf der anderen Seite stand für ihn der vom Handel um des Handels willen abhängige Jude", so geht es aus einer Mitschrift der Goslarschen Zeitung von einer Rede des noch nicht lange amtierenden "Reichsbauernführers" im Jahr 1934 hervor.
Richard Walther Darré bei einer Rede in der Reichsbauernhalle in Goslar (An der Wachtelpforte, abgebrannt 1948) Foto: CC BY SA 3.0 / Bundesarchiv / Bild 183-H1215-503-009
Darrés Reichsbauernstadt
Der Urheber dieser Worte ruht seit 1953 in einem 1936 errichteten Familiengrabmal, ausgerichtet an der Mittelachse des alten Friedhofes Goslar in der Hildesheimer Straße. Nach der Machtübernahme der NSDAP im Jahr 1933 wurde er Leiter des Parteiamts für Agrarpolitik, und wurde am 28. Mai zum Reichsbauernführer. In Goslar - sozusagen seiner Wahlheimat - baute er den sogenannten "Reichsnährstand" als zentralen Landwirtschaftsverband auf und versah die Kaiserstadt am Harz 1936 mit dem Ehrentitel "Reichsbauernstadt".
Aus den Tagebüchern Darrés geht laut einer Veröffentlichung des Geschichtsvereins Goslar hervor, dass er hierfür auch die Stadt Wolfenbüttel in die engere Auswahl einbezogen hatte. Von 1934 bis 1938 feierte Goslar die Reichsbauerntage, mit der Kaiserpfalzwiese als Kulisse für die beinahe religiös anmutenden Treueschwüre an den "Führer".
Ab 1938 geriet Darré als Landwirtschaftsminister zunehmend unter Druck, da Hitlers Prioritäten der Kriegsvorbereitungen mit einem Schwerpunkt auf die Rüstungsindustrie sich deutlich von Darrés Vorstellungen eines Reiches mit einem stolzen Bauernstand unterschieden, sodass ab 1938 sogar die Auflösung des Reichsnährstands gefordert wurde. Darré litt unter Depressionen und wurde immer häufiger von seinem Staatssekretär Herbert Backe vertreten, wie aus einer Veröffentlichung des Geschichtsvereins Goslar hervorgeht. Ein Rücktrittsgesuch Darrés 1939 sei abgelehnt worden. Hitler habe stattdessen geschrien: "Ihr scheissagrarpolitischer Apparat ist auch keinen Schuss Pulver wert gewesen. Was haben sie überhaupt schon geleistet?" 1942 wurde Darré schließlich beurlaubt - nicht entlassen, wie der Geschichtsverein betont. Mit fünfjähriger Unterbrechung durch Gefangennahme und Haft lebte Darré bis zu seinem Tod in Goslar.
Darré war "Mitinitiator der Vernichtungspolitik"
Darrés Vermächtnis beinhaltet nicht nur den berüchtigten Erlass, deutschen jüdischer Konfession Grundnahrungsmittel zu verweigern und diese somit dem Hungertod auszuliefern, er war als Leiter des SS-Rasse- und Siedlungshauptamtes Hauptverantwortlicher für die Vernichtung der Bevölkerung eroberter Ostgebiete. "Es muss ganz klar gesagt werden, dass Darré (...) schuldig an den Massenmorden in Litauen, Lettland, Estland, Weissrussland und der Ukraine war. Dieser angeblich so harmlose "Reichsbauernführer" war ideologischer Kopf und Mitinitiator der Vernichtungspolitik", fasst Wilhelm Hubötter, Gartengestalter unter Reichsbauernführer Darré dessen Verbrechen zusammen. 1945 wurde Darré verhaftet und 1949 vom amerikanischen Militärgericht zu sieben Jahren Haft verurteilt - aber schon 1950 wieder entlassen. Seine letzten Jahre verlebte er in Bad Harzburg. Er starb am 5. September 1953 in einer Privatklinik in München.
Das Grabmal
Das Darré-Grabmal hat eine große unterirdische Gruft. Nach Recherchen der Harzer Schriftstellerin Barbara Ehrt kenne das wahre Ausmaß dieses "Gruftkellers mit Sandsteinabdeckung" nur die Familie Darré, das Garten- und Friedhofsamt und der Denkmalschutz. Es liegt nahe des westlichen Endes des Alten Friedhofes an der Hildesheimer Straße und ist dort von einem "Rundweg" eingekreist.
Das Symbol auf dem Grabmal Darres ist höchstwahrscheinlich eine Kombination zweier von der SS genutzten Runen. Eine "Ger-Rune" und die "Wolfsangel" lassen sich erkennen. Die "Wolfsangel" war in der SS beliebt, die "Ger-Rune" wurde auch mit "erfolgreiche Ernte" interpretiert. Umkreist wird das Symbol von einer Schlange, die sich in den Schwanz beißt, einem sogenannten "Ouroboros".
Streit um das Grab begann bereits 1945
Nach seinem Tod im September 1953 wurde Darré in der bereits 1936 geweihten Familiengrabstätte auf dem alten Friedhof in der Hildesheimer Straße in Goslar beigesetzt. Das Begräbnis erfolgte keineswegs im Stillen - einem Bericht der Goslarschen Zeitung vom 10. September 1953 zufolge war halb Goslar auf den Beinen:
"Richard Walther Darré ist heimgegangen. Die Erde der Stadt, die er als Reichsminister zur Heimat wählte, hat das aufgenommen, was sterblich an ihm war. Hunderte von Goslarern gaben dem Ehrenbürger ihrer Stadt das letzte Geleit. Unter ihnen Oberbürgermeister Grundner-Culemann mit einigen Ratsherren und Oberstadtdirektor Schneider. Zahlreiche Bauern hatten sich eingefunden, um ihre Verbundenheit mit dem Menschen Richard Walther Darré zum Ausdruck zu bringen. (...) Pastor Lindemann hatte seinen eben erst in Süddeutschland begonnenen Kuraufenthalt unterbrochen, um dem Verstorbenen seinem Wunsche gemäß den letzten Segen zu erteilen. Es sei sehr schwer, sagte der Geistliche, in einem Augenblick des Schmerzes die Liebe Gottes zu erkennen. Auch der Verstorbene habe schwere Prüfungen durchmachen müssen, seit ihm 1942 die Anerkennung versagt wurde. Selbst nach dem Kriege sei es ihm nicht erspart geblieben, fünf Jahre in Lager- und Gefängnishaft zu verleben. Und nun sei er aus dem Leben abberufen worden, ohne die Möglichkeit zu haben, seinem Vaterland und seiner Heimat zu dienen, wie es sein Streben gewesen sei. (...)"
Goslar blieb lange Nazi-Hochburg
Besonders obskur wirken diese wohlwollenden Worte acht Jahre nach Kriegsende sicherlich angesichts der Tatsache, dass aus Ratsdokumenten vom 13. November 1945 bereits hervorgeht, dass die Familie Darré über "die Aufhebung der Begräbnisplatte" informiert werden solle. Dass das schon damals nicht geklappt hat, habe laut Friedhart Knolle, zweiter Vorsitzender des Vereins NS-Spurensuche Harzregion, mehrere Gründe: "Die Familiengrabstätte in Goslar wurde Darré als Ehrenbürger der Stadt schon 1936 übereignet, seine Mutter Eleonore wurde dort am 22. Juli 1936 beigesetzt. Von daher konnte man ihm die Grabstätte nach 1945 nicht einfach aberkennen, zumal etliche ehemalige Funktionäre des Reichsnährstandes in Goslar geblieben und zu einflussreichen Positionen gekommen waren".
Tatsächlich schätzte ein namentlich unbekannter Sozialdemokrat die Lage in Goslar nach der Kommunalwahl 1952 wie folgt ein: "Man findet im Goslarer Rau die unbelehrbaren Vertreter von Hakenkreuz und ihre Nachfolgertrabanten an oftmals exponierten Stellen der rechtsparteilichen Einheitsliste."
Diese Einheitsliste aus ehemaligen NS-Funktionären konnte 1952 mit 51,5 Prozent der Stimmanteile sehr bequem regieren - was letztendlich auch die sehr wohlwollende Atmosphäre beim Begräbnis des "Blut und Boden" - Ideologen Darré erklärt. Die Stadt Goslar übernahm sogar die Begräbniskosten.
Bis in die 2000er kehrte Ruhe ein
Schwer nachzuvollziehen lässt sich, was zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem neuen Jahrtausend eigentlich rund um das Grab geschah. Laut der Stadt Goslar gab es "verschiedene Initiativen", die sich mit einer Dokumentation für diesen Bereich auseinandergesetzt haben. Richtig Schwung nahm die Sache erst in den 2000ern wieder auf. Die Nutzungsfrist für die Grabstätte war abgelaufen, noch lebende Angehörige hätten kein weiteres Interesse an der Weiternutzung gezeigt und die Grabstätte wurde von der Stadt Goslar übernommen. Dies nahm Ratsherr Jochen Baldauf (Bündnis 90/Die Grünen) im September 2003 zum Anlass, diese "vollkommen unreflektierte Darstellung von Gedenkstätten, Steinen und Gräbern aus der NS-Zeit" infrage zu stellen.
Nur wenige Tage zuvor erreichte ein Brief des heutigen Bürgerliste-Mitglieds Mempel den damaligen Oberbürgermeister Otmar Hesse. Mempel äußerte sich fassungslos: "Was die Stadt Goslar bewogen hat, das Grab Darrés, eines zur Führungsriege des NS-Staates gehörenden und tief in dessen Verbrechen verstricken Schreibtischtäters, eines militanten Rassisten und bösartigen Antisemiten als "erhaltungswürdige Grabstätte auf ewige Zeiten" aus Steuergeldern unterhalten zu lassen, statt diese Anlage so rasch wie möglich diskret einzuebnen, ist nicht nachvollziehbar. Diese Entscheidung ist zynisch und kommt einer Verhöhnung der Millionen Opfer des NS-Regimes gleich."
Die Verwaltung empfahl vor 17 Jahren eine Hinweistafel
Tatsächlich wurde die Grabstätte unter Denkmalschutz gestellt. Die Stadt Goslar antwortet auf Anfrage unserer Redaktion hierzu: Die Grabstätte ist als „steingewordenes Abbild der NS-Ideologie“ im direkten Umfeld der beigesetzten Opfer dieses Regimes unverzichtbar, wenn man die Erinnerung an diese Zeit und das damit verbundene gesellschaftliche Umfeld an Nachfolge-Generationen vermitteln soll." Eine geschichtliche Einordnung, beispielsweise durch eine treffende Beschilderung, wurde jedoch nie vorgenommen - immerhin erhielt Ratsherr Baldauf auf seine schriftliche Anfrage hierzu die Antwort, dass seitens der Verwaltung die Darstellung des zeitgeschichtlichen Zusammenhangs mittels einer Hinweistafel hergestellt werden sollte.
Der Friedhof wird zum Politikum
Es sollte noch bis 2008 dauern, bis die Odyssee um das Grabmal auf Initiative des Vereins NS-Spurensuche Harz und der Fraktion der Grünen endgültig Thema im Rat wurde. Ein entsprechender Antrag wurde von ganzen fünf Fraktionen unterstützt (SPD, CDU, Bürgerliste Goslar, Goslarer Linke und Bündnis 90/Die Grünen). Dem entgegen stand die FDP, welche den Friedhof Goslar als "politikfreien Raum" sieht, was Linken-Ratsherr Heinz Severitt wie folgt kommentierte: "Angesichts der Tatsache, dass auf den Goslarer Friedhöfen nicht nur alte Nazis, sondern auch Opfer des Faschismus beerdigt liegen, ist es peinlich, den Friedhof als politikfrei zu bezeichnen. Durch die Streichung des Satzes wird die Formulierung noch abstruser. Der Rat der Stadt Goslar soll feststellen, dass es in Goslar Friedhöfe gibt", welchen Satz genau Severitt meint, ist nicht klar. Jedoch gibt dieser Satz das Klima der damaligen Diskussion im Rat sehr gut wieder.
Der Rat der Stadt Goslar stellte letztlich fest, dass die Friedhöfe der Stadt ein Zeitdokument der deutschen und Goslarer Geschichte sind - es sollte eine Dokumentation über den Friedhof an der Hildesheimer Straße erstellt werden: "In dieser Dokumentation, die Interessierten und Schulen zur Verfügung stehen sollte, ist insbesondere der Lebenslauf der dort bestatteten NS-Funktionäre aus demokratischer Sicht darzustellen."
Politische Bestrebungen bleiben ergebnislos
Letzterer Beschluss wurde im Kulturausschuss diskutiert. Ohne Ergebnis. Eine Dokumentation wurde bis heute nicht erstellt - ebenso keine Beschilderung. 2013 wurde Adolf Hitler und Walther Darré die Ehrenbürgerwürde, die nach dem Tod ohnehin erloschen ist, noch einmal formell aberkannt. Bis heute stehen regelmäßig frische Blumen und ein Grablicht an der monumentalen Ruhestätte des SS-Obergruppenführers Darré. Es gibt jedoch nur Mutmaßungen, wer diese dort ablegen könnte. Wie die Stadt Goslar auf Anfrage erklärt, sei das Grabmal nicht als Wallfahrtsort für Neonazis auffällig geworden - man vermute Angehörige hinter der Grabdekoration.
Während der NS-Geschichte am Hinrichtungsgefängnis in Wolfenbüttel erst kürzlich ein hochmodernes Dokumentationszentrum gewidmet wurde, bleibt die düstere Geschichte der Reichsbauernstadt Goslar für uneingeweihte weitestgehend im Dunkeln - selbst wenn man mit der Nase darauf stoßen sollte. Die Causa Darré bleibt in ihrer Gesamtheit weiterhin ungelöst.
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