Elizabeth T. Spira erhielt Lessing-Preis für Kritik


Den Lessing-Preis für Kritik 2018 erhält die in Glasgow geborene österreichische Dokumentarfilmerin und Publizistin Dr. Elizabeth T. Spira. Foto: Lessing-Akademie
Den Lessing-Preis für Kritik 2018 erhält die in Glasgow geborene österreichische Dokumentarfilmerin und Publizistin Dr. Elizabeth T. Spira. Foto: Lessing-Akademie

Wolfenbüttel. Der zehnte Lessing-Preis für Kritik wurde am 13. Mai 2018 in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel an die österreichische Dokumentarfilmerin Dr. Elizabeth T. Spira vergeben. Den Förderpreis erhielt die Wiener Journalistin Stefanie Panzenböck, berichtet die Lessing-Akademie.


Elizabeth T. Spira, in Glasgow geborene Tochter jüdischer Emigranten, hat nach Meinung der Jury, auch über den deutschsprachigen Raum hinaus, Fernsehgeschichte geschrieben. Ihre über viele Jahre zu sehenden Sendereihen »Alltagsgeschichte« und »Liebesg’schichten und Heiratssachen« zeigten, wie eng Gesellschaftskritik und großer Publikumserfolg zusammengehen können. In ihren Gesprächen beweise sie ein einzigartiges Talent, Menschen zum Sprechen zu veranlassen, ohne sie vorzuführen oder der Lächerlichkeit preiszugeben. Eine Haltung, die an Lessing erinnere, dessen Theaterreform das Lachen an die Stelle des Verlachens gesetzt habe.

Ihre Wahl der Förderpreisträgerin Stefanie Panzenböck begründete Frau Spira damit, dass die Wiener Journalistin seit Jahren hervorragende Beiträge über die Kultur Wiens und die österreichische Politik schreibe, kritisch, gut recherchiert, souverän und unaufdringlich, und manchmal auch im Widerspruch zu ihrer eigenen Auffassung stehend.
In seiner Laudatio sagte der Journalist und Publizist Dr. Franz Kössler, früherer Redaktionsleiter des ORF, Toni Spira beschreibe die Verfasstheit der österreichischen Gesellschaft konkreter als jede soziologische Studie, nicht zuletzt ihren Abgrund an Vorurteil und Rassimus.

In ihrer Rede gab Spira kurze, aber sprechende Einblicke in den soziologischen Wandel, den Österreich in den Jahrzehnten ihrer Arbeit erfahren habe. Heute seien etwa mehr Buddhastatuen als Kruzifixe in Österreichs Wohnstuben zu finden, und der Partnersuche in Internetforen kann sie noch immer wenig abgewinnen. Dem eigenen Land noch immer in freundlicher Distanz verbunden, verglich sie sich mit einer Afrikanerin, die ethnologische Studien im fremden Land treibe.

Der Lessing-Preis für Kritik wird seit dem Jahr 2000 gemeinsam von der Lessing-Akademie Wolfenbüttel und der Stiftung Die Braunschweigische verliehen und ist mit insgesamt 20.000 (15.000 + 5.000) Euro dotiert.

Begründung der Jury


Den Lessing-Preis für Kritik 2018 erhält die in Glasgow geborene österreichische Dokumentarfilmerin und Publizistin Dr. Elizabeth T. Spira. Vor allem die für den Sender ORF produzierten Reportage-Reihen Alltagsgeschichte (1985-2006) sowie Liebesg’schichten und Heiratssachen (seit 1997) haben den Ruf Spiras als »Jahrhundertfigur fürs Fernsehen« auch außerhalb Österreichs begründet.

Die Jury zeichnet mit Elizabeth T. Spira die Grande Dame einer schonungslosen österreichischen Selbstbetrachtung in der Tradition von Autoren wie Thomas Bernhard oder Elfriede Jelinek aus. In ihren Gesprächen zeigt sie ein einzigartiges und unerreichtes Talent, Menschen zum Sprechen zu veranlassen und Gegenstände beredt zu machen. In Form einer ethnologisch zu verstehenden ›beobachtenden Teilnahme‹ zeigt sie Personen aus dem ganzen Spektrum der österreichischen Gesellschaft, nicht selten aus sozial einfachsten Verhältnissen, häufig Außenseiterexistenzen. Die Resultate sind so brisant, dass etwa ihre Aufnahmen von Stammtischgesprächen (unter dem Titel Am Stammtisch) mit ihren allgegenwärtigen Rassismen und Antisemitismen erst 28 Jahre nach dem Entstehen, im Jahr 2016, gesendet wurden. Auf der Ausstrahlung der Folge bestehend wurde Spira, selbst Jüdin, kurzzeitig beurlaubt.

Die dokumentarische Reihe der »Alltagsgeschichte« setzte Spira mit den nach einem Nestroy-Stück benannten außerordentlich erfolgreichen Liebesg’schichten und Heiratssachen fort. Zu Unrecht sahen sich deren Folgen dem Vorwurf des Voyeurismus ausgesetzt, denn auch die Adaption eines ›Kuppelformats‹ dient der Popularisierung eines nach wie vor ungeheuer kritischen Blicks. Manche Folgen erscheinen als Pandämonium der österreichischen Bevölkerung, wobei das Personal ihrer Filme wie durchleuchtet auf Charaktere, allgemeine Verhaltensweisen, anthropologische Muster erscheint. Elizabeth T. Spiras Blick auf den Menschen beschönigt nichts, er verdeckt keine Schwächen, Wunderlichkeiten, selbst Vulgaritäten. Immer wieder thematisiert sie das den Menschen vorenthaltene Glück, die unerfüllte promesse du bonheur. Dabei führt sie das Personal ihrer Filme nicht vor, gibt es nie der Lächerlichkeit preis.

Lessing hatte in der Hamburgischen Dramaturgie die Achse vom Verlachen zum Lachen gewendet, die Komödie sollte den Zuschauer durch Lachen bessern, läutern. Das darin an den Aufklärer erinnernde Werk Elizabeth T. Spiras ist illusionslos, von schneidender Schärfe, ohne didaktischen Schwung. Aber in der Darstellung menschlicher Einsamkeit, seiner Suche nach Glück, Gemeinschaft, Geborgenheit liegt auch ein untilgbares Moment der Utopie.

Der Preis


Der Lessing-Preis für Kritik wird seit dem Jahr 2000 gemeinsam von Lessing-Akademie Wolfenbüttel und Die Braunschweigische Stiftung verliehen. Mit ihm wird, nach dem Vorbild Lessings, Kritik in einem elementaren, fachübergreifenden, auch gesellschaftlich wirksamen Sinn ausgezeichnet, eine bedeutende, geistig und institutionell unabhängige, risikofreudige kritische Leistung. Es gehört zu der Besonderheit des alle zwei Jahre vergebenen Preises, dass der Preisträger einen Förderpreisträger eigener Wahl bestimmt. Dotiert ist der Lessing-Preis für Kritik mit insgesamt 20.000 (15.000 und 5.000) Euro. Die bisherigen Preisträger und Förderpreisträger waren Karl Heinz Bohrer / Michael Maar (2000), Alexander Kluge / St. Petersburger Cello-Duo (2002), Elfriede Jelinek / Antonio Fian (2004), Moshe Zimmermann / Sayed Kashua (2006), Peter Sloterdijk / Dietmar Dath (2008), Kurt Flasch / Fiorella Retucci (2010) Claus Peymann / Nele Winkler (2012), Hans-Ulrich Wehler/Albrecht von Lucke (2014) sowie Dieter Wieland und Thies Marsen im Jahr 2016.

Die Jury


Zur Jury gehören die Publizistin Dr. Franziska Augstein, die Romanistin Prof. Dr. Ulrike Sprenger, der Leiter des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt Braunschweig Prof. Dr. Joachim Block, der Hallenser Germanist Prof. Dr. Daniel Fulda, Prof. Dr. Cord-Friedrich Berghahn, Präsident der Lessing-Akademie Wolfenbüttel und der Direktor der Herzog August Bibliothek, Prof. Dr. Peter Burschel.


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