Der Strombedarf steigt: Müssen wir zurück zur Atomkraft?

Mit steigendem Strombedarf und dem Versuch, unabhängig von russischem Gas zu werden, steht sie wieder auf der Tagesordnung: Die Atomkraftdebatte. Aber wie stehen unsere Volksvertreter in Berlin eigentlich dazu? regionalHeute.de hat nachgefragt.

Symbolbild.
Symbolbild. | Foto: Über dts Nachrichtenagentur

Region. Krieg, immer höherer Energiebedarf und holprige Energiewende. Nun sollen Ende des kommenden Jahres auch noch die letzten Atommeiler vom Netz genommen werden. Ist das eine gute Idee? Finanzminister Christian Lindner jedenfalls kann sich zumindest eine Diskussion über neue Atomkraftwerke vorstellen. Aber wie stehen unsere Bundestagsabgeordneten dazu? regionalHeute.de hat nachgefragt. Wir veröffentlichen die Antworten unkommentiert und ungekürzt. Die Statements sind in der Reihenfolge ihres Eintreffens geordnet.



Karoline Otte (Grüne), Northeim-Goslar


Die Bundestagsabgeordnete Karoline Otte (Grüne)
Die Bundestagsabgeordnete Karoline Otte (Grüne) Foto: Thomas Stödter



„Eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke wurde geprüft und kommt nicht in Frage. Atomkraft ist nicht nur eine Technologie mit enormen Risiken und hohen Kosten im Betrieb und nicht absehbaren Kosten in der Entsorgung des Abfalls, sondern auch keineswegs eine flexibel und einfach einzusetzende Lösung. Die notwendigen Brennstäbe zu beschaffen ist kurz- und auch mittelfristig nicht möglich.“

Victor Perli (Die Linke), Wolfenbüttel


Der Bundestagsabgeordnete Victor Perli (Die Linke)
Der Bundestagsabgeordnete Victor Perli (Die Linke) Foto: Thomas Stödter



„Entscheidend ist, dass Strom für alle Menschen bezahlbar wird und bleibt. Dabei hilft kein Rückfall ins Atomzeitalter, sondern nur der Ausbau erneuerbarer Energien in öffentlicher Hand und eine vernünftige, sozial gerechte Preisregulierung. Atomkraft ist teuer und ein Sicherheitsrisiko. Es ist gut, dass die AKWs abgeschaltet werden. Markus Söder und die bayerische Landesregierung wollen zwar Atomkraftwerke, zugleich wollen sie aber Bayern als Standort für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle ausschließen. Glaubwürdigkeit sieht anders aus.“

Frank Bsirske (Grüne), Helmstedt-Wolfsburg


Der Bundestagsabgeordnete Frank Bsirske (Grüne)
Der Bundestagsabgeordnete Frank Bsirske (Grüne) Foto: Thomas Stödter



"Aus meiner Sicht macht es keinen Sinn, die Laufzeiten der verbliebenen drei Atomkraftwerke zu verlängern. Auch wenn ich das als Grüner nicht bereits aus grundsätzlichen Überlegungen ablehnen würde, wäre es nicht möglich, im kommenden Winter dort Strom zu produzieren. Es würde mindestens 1,5 Jahre brauchen, bis wir neue Brennstäbe bezogen haben, die in den verbliebenen Kraftwerken genutzt werden können. Hinzu kommt, dass die Brennstäbe zuletzt in der Regel aus Kasachstan und Russland geliefert wurden und für einen Weiterbetrieb erst einmal umfassende Sicherheitsprüfungen durchgeführt und Personal geschult werden müssen. Ein Blick in andere europäische Nachbarstaaten ist auch nicht ermutigend. In Frankreich standen im Juni mehr als die Hälfte aller Atomreaktoren still. Sogar Reaktoren der jüngeren Baureihe mussten aufgrund von Korrosionsproblemen vom Netz genommen werden. Eine schnelle Lösung der technischen Probleme ist in Frankreich nicht in Sicht und der sich verschärfende Fachkräftemangel bremst zusätzlich. Auch grundsätzlich finde ich es daher nicht sinnvoll in Deutschland erneut über den Bau neuer Atomkraftwerke zu diskutieren. Denn der Bau dauert zirka ein Jahrzehnt und kostet viele Milliarden, die in erneuerbaren Energien besser investiert sind."

Dr. Christos Pantazis (SPD), Braunschweig


Der Bundestagsabgeordnete Dr. Christos Pantazis (SPD)
Der Bundestagsabgeordnete Dr. Christos Pantazis (SPD) Foto: Thomas Stödter



"Einer Rückkehr zur Kernenergie erteile ich eine unmissverständliche Absage. Der deutsche Atomausstieg ist – trotz des Krieges in der Ukraine – unumkehrbar und folglich auch so in unserem Koalitionsvertrag `Mehr Fortschritt wagen´ festgehalten. Die Rückbesinnung auf Atomenergie bedeutet per se auch keine Rückkehr zur stabilen Energieversorgung, sondern vielmehr zu bereits bekannten – teils gravierenden – Problemen. Ein Blick zu unseren europäischen Nachbarn, die – wie Frankreich – weiterhin auf Atomkraft setzen, offenbart, dass bei Fragen der Störanfälligkeit von Atomkraftwerken bis hin zur noch immer nicht zufriedenstellend gelösten Frage der Endlagerung von anfallendem Atommüll, diese Technologie mehr für Probleme als für Lösungen steht.

Eine Rückkehr zur Atomkraft bedeutet somit eine Rückkehr zu Hochrisikotechnologien, deren Folgen künftige Generationen zu tragen hätten. Anstatt den Irrweg der Kernkraft als `vermeintliche Brückentechnologie´ beschreiten zu wollen, braucht es viel mehr Innovation und Investitionen beim Ausbau regenerativer Energien. Dadurch können wir nicht nur unsere eigene Unabhängigkeit von Energieimporten, sondern auch die Versorgung künftiger Generationen sicherstellen und das Ziel der Klimaneutralität strikt weiterverfolgen.

Dabei hilft uns kein Zick-Zack-Kurs wie Herr Söder ihn nun interessengeleitet fährt, sondern entschlossenes Handeln und Mut zu technischen Innovationen und Investitionen für eine erfolgreiche Energiewende. Ferner dürfen wir nicht der Versuchung erlegen, den Klimaschutz gegen soziale Fragen ausspielen zu wollen: Der Übergang zu regenerativen Energien muss daher originär mit Entlastungen von Familien, Geringverdiener:innen und anderen finanziell bedürftigen Personengruppen einhergehen."

Carsten Müller (CDU), Braunschweig


Der CDU-Bundestagsabgeordnete Carsten Müller.
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Carsten Müller. Foto: Thomas Stödter



„Ich stehe einer nicht nur vorübergehen Laufzeitverlängerung eher skeptisch gegenüber. Eine kurzfristige Laufzeitverlängerung der drei noch im Betrieb befindlichen Anlagen kann allerdings zur Verhinderung von Stromengpässen und zur Netzstabilisierung im Winter sinnvoll sein. Nach der nicht zu kontrollierenden Katastrophe in Fukushima hat sich Deutschland bewusst für den Ausstieg und gegen die weitere Nutzung der Kernenergie entschieden. Ganz besonders in unserer Region wissen wir - nicht nur durch Gorleben, Schacht Konrad und die Asse – dass Kernenergie weder sauber noch preisgünstig ist. Das Problem der Endlagerung und des Abbaus des radioaktiven Abfalls ist weiterhin ungelöst. Tatsache ist: Eine Verlängerung der Laufzeit kann nicht im Vorbeigehen erfolgen. Es bedarf neuer Brennstäbe, die frühesten in einem Jahr verfügbar wären und neuen hochradioaktiven Abfall produzierten. Ein Streckbetrieb mit vorhandenen Brennelementen verhindert möglicherweise Stromengpässe und stabilisiert unser Netz im Winter, aber es liefert in der Summe keinen zusätzlichen Strom. Die sicherheits- und genehmigungsrechtliche Situation aller Anlagen verlangt, selbst bei höchster Intensität, enorme Anstrengungen, um die zu erneuernde Betriebserlaubnis aller Anlagen, notwendige umfassende Sicherheitsüberprüfungen und erforderliche Nachrüstungen schnellstmöglich zu gewährleisten. Abstriche bei der Sicherheit darf es nie geben. Diese Prozesse sind zeit- und sehr kostenintensiv. Die Kernenergie ist eben gerade keine wirtschaftliche Energiequelle und wird das auch in Zukunft nicht sein – auch nicht im Weiterbetrieb.

Und ergänzend zu den Kosten der Kernenergie: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) stellt beispielsweise im letzten Jahr fest, dass die derzeitigen Investitionen in Kernkraftwerke in Europa und den OECD-Ländern flächendeckend Verluste in bis zu zweistelliger Milliardenhöhe produzieren. Ein Modell des DIW zeigt, dass die Kernenergie selbst bei konservativen Annahmen mit hohen Strompreisen und niedrigen Kapitalkosten nicht rentabel ist. Aktuelle Beispiele für die hohen Kosten liefern etwa das Kernkraftwerk Hinkley in Großbritannien. Dort sind die Investitionskosten von 19 auf 26 Milliarden Euro gestiegen, unter anderem wegen sicherheitstechnisch notwenigen Nachrüstungen. Die garantierte Einspeisevergütung liegt hier bei über 9 Cent pro Kilowattstunde und damit deutlich über der Einspeisevergütung für Offshore-Wind. Bei den neuen Kraftwerksblöcken für das AKW Vogtle in den USA liegen die Investitionen bei etwa 29 Milliarden US-Dollar. Geplant waren einmal 14 Milliarden Dollar. Auch die Kostenexplosion beim Bau des finnischen Reaktors Olkiluoto 3 fügt sich hier nahtlos ein."

Frauke Heiligenstadt (SPD), Northeim-Goslar


Die Bundestagsabgeordnete Frauke Heiligenstadt (SPD)
Die Bundestagsabgeordnete Frauke Heiligenstadt (SPD) Foto: Thomas Stödter



"Eine Verlängerung der Laufzeit von Atomkraftwerken halte ich für den falschen Weg. Zum einen wäre eine Laufzeitverlängerung mit enormen Kosten verbunden und zum anderen wäre das eine rückschrittliche Maßnahme bei der Transformation unserer Energiegewinnung hin zu regenerativen und erneuerbaren Energien. Für den anfallenden Atommüll gibt es bisher auch keine sicheren und langfristig verträglichen Lösungen.

Zu Beginn der Legislaturperiode haben wir nach hinreichender fachlicher Prüfung beschlossen, dass es keine Laufzeitverlängerungen geben wird. Ein Weiterbetrieb wäre auch technisch und genehmigungsrechtlich mit hohen Hürden verbunden. Die Bundesregierung und die Energieminister der Länder haben außerdem am 8. März 2022 erklärt, dass eine Laufzeitverlängerung keine Option ist, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten und die Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen zu reduzieren. Selbst die Betreiber der Atomkraftwerke sehen das skeptisch. Hinzu kommt, dass das für den Betrieb notwendige Uran auch wieder Abhängigkeiten in anderen Ländern schafft.

Um den Bedarf an Energie kurz- und mittelfristig abdecken zu können, haben wir deshalb als kurzfristige Maßnahme unter anderem den Bau von stationären LNG-Terminals in Wilhelmshaven und Brunsbüttel beschlossen.

Langfristig müssen wir aber den Anteil an erneuerbaren Energien massiv erhöhen. Um den Ausbau der erneuerbaren Energien voranzutreiben, hat das Wirtschafts- und Klimaschutzministerium am 8. Juni 2022 Pläne vorgelegt. Diese beinhalten unter anderem das neue Wind-an-Land-Gesetz, wodurch Windkraftanlagen und Windenergie insgesamt zu einem „überragenden öffentlichen Interesse“ erklärt werden. Das soll den Bau von Windkraftanlagen in der ganzen Republik beschleunigen und vereinfachen. Die Windenergie ist eine wichtige Säule bei der Energiewende. Deshalb geben wir gesetzlich verpflichtende Flächenziele vor: Bis 2026 sollen 1,4 Prozent und bis 2032 zwei Prozent der Bundesfläche für Windräder verfügbar sein. Für die einzelnen Länder gelten unterschiedliche Ziele. Bei der Umsetzung ist wichtig, dass die Ausbauziele auch mit den Ländern und Kommunen in Einklang gebracht werden. Dafür benötigen die Kommunen die Zeit und den verbindlichen Auftrag."

Falko Mohrs (SPD), Helmstedt-Wolfsburg


Der Bundestagsabgeordnete Falko Mohrs (SPD)
Der Bundestagsabgeordnete Falko Mohrs (SPD) Foto: Thomas Stödter



"Der Ausstieg aus der Atomenergie zum Ende dieses Jahres ist Gesetz. Die Laufzeit der drei noch bestehenden deutschen Atomkraftwerke angesichts des brutalen Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine zu verlängern, um sich bis zum nächsten Winter stärker energieunabhängig von Russland zu machen, würde nicht nur sehr hohe wirtschaftliche Kosten verursachen, sondern wäre auch sicherheitstechnisch riskant. Seit Jahresbeginn liegt außerdem ein Rechtsgutachten vor, das besagt, dass die Aufnahme von Atom und Gas rechtswidrig wäre. Deshalb halte ich es für wichtig und richtig, stattdessen den Ausbau der erneuerbaren Energie massiv voranzutreiben."

Anikó Merten (FDP), Braunschweig


Die Bundestagsabgeordnete Anikó Merten (FDP)
Die Bundestagsabgeordnete Anikó Merten (FDP) Foto: FDP



"Debatten ideologiefrei und technikoffen zu führen, wird für uns Freie Demokraten immer oberste Priorität haben, egal ob wir dabei über eine unabhängige Energieversorgung oder die Zukunft der individuellen Mobilität diskutieren. Eine Kernkraftdebatte zum jetzigen Zeitpunkt scheitert aber schlichtweg an der praktischen Umsetzbarkeit, da unsere verbliebenen drei Kernkraftwerke bereits auf eine Stilllegung zum Ende des Jahres ausgelegt sind. Derzeit gibt es weder Betreiber noch Sicherheitsüberprüfungen, die ein Weiterlaufen überhaupt ermöglichen könnten, zudem wären wir auf Importe von neuen Brennstäben aus Russland angewiesen. Putins Angriffskrieg auf die Ukraine darf an keiner Stelle begünstigt werden, daher fordern wir auch ein Importstopp von russischem Uran. Die Beispiele Frankreich, Belgien und Finnland haben uns übrigens deutlich gezeigt, dass der Bau von neuen Atomkraftwerken die dafür veranschlagten Baukosten regelmäßig überschritten hat. Eine ideologiefreie und technologieoffene Erforschung neuer Generationen von Kernenergie werden wir aber selbstverständlich auch weiterhin unterstützen."

Dunja Kreiser (SPD), Wolfenbüttel


Die Bundestagsabgeordnete Dunja Kreiser (SPD)
Die Bundestagsabgeordnete Dunja Kreiser (SPD) Foto: Thomas Stödter



"Eine Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken ist mit mir nicht zu machen, ein Neubau von solchen Anlagen kommt für mich überhaupt nicht in Betracht." Die SPD-Bundestagsabgeordnete Dunja Kreiser hat allen anderslautenden Überlegungen eine klare Absage erteilt. Die absolute und auf der Hand liegende Notwendigkeit des Umbaus unserer Energieversorgung dürfe nicht dazu führen, dass wir die Fehler der Vergangenheit wiederholen, meinte Kreiser, die im Bundestag die Region Wolfenbüttel-Salzgitter-Nordharz vertritt. „Gerade wir hier in unserer Heimat kennen doch die riesigen Probleme und offenen Fragen, die schon alleine die Endlagerung des Atommülls mit sich bringt.“ Schon deshalb sei es absurd, an eine Renaissance der Kernkraft zu glauben.

Hinzu kämen die tatsächlichen, immensen Kosten, die diese Energieerzeugung verursacht und die nur zu oft von interessierter Seite falsch dargestellt werden. „Und aus welchen Ländern kommt eigentlich der Rohstoff für die Atommeiler, wollen wir diese tatsächlich unterstützen und uns von denen abhängig machen?“, fragt sich die Abgeordnete. Dass zudem von den Befürwortern der Atomkraftwerke die von diesen ausgehenden Gefahren in der Debatte aktuell fast vollständig ausgeblendet werden, passe ins Bild. „Wer über Energieversorgung diskutiert, der sollte schon die ganze Wahrheit sagen“, appelliert Kreiser. „Wir setzen ohne Wenn und Aber vielmehr auf den Ausbau von erneuerbaren Energien – da geht Niedersachsen schon jetzt in vielen Bereichen voran und daran sollte man sich orientieren."


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