Region. Der Mord an der 15-jährigen Anastasia aus Salzgitter im Juni vergangenen Jahres und auch die Ermordung der 12-jährigen Luise aus Freudenberg in Nordrhein-Westfalen hat ganz Deutschland erschüttert. Vor allem, weil die mutmaßlichen Täter selbst noch Kinder sind. Fälle wie diese lösen immer wieder Diskussionen darüber aus, ob die Strafmündigkeit mit 14 noch angebracht ist. regionalHeute.de hat bei den hiesigen Bundestagsabgeordneten nachgefragt, ob hier eine Gesetzesreform notwendig ist.
Ein einhundert Jahre altes Gesetz regelt, wie mit jugendlichen Straftätern umzugegen ist. Dabei macht Paragraph 19 des Strafgesetzbuchs (Schuldunfähigkeit des Kindes) deutlich, dass schuldunfähig ist, wer bei Begehung der Tat noch nicht 14 Jahre alt ist. Sowohl im Fall der getöteten Anastasia (hier waren die mutmaßlichen Täter 13 und 14 Jahre alt), als auch nun bei der 12-jährigen Luise (mutmaßliche Täterinnen sind 12 und 13 Jahre alt) würde das bedeuten, dass sie straffrei ausgehen. Medienberichten zufolge sollen sich die beiden mutmaßlichen Täterinnen sogar vorab im Internet über die Strafmündigkeit informiert haben.
Debatte über die Strafmündigkeit gefordert
Bereits kurz nach der grausamen Tat in Salzgitter forderte Niedersachsens ehemaliger CDU-Landeschef Bernd Althusmann eine Debatte über die Strafmündigkeit. In der vergangenen Woche erklärten auch Mitglieder der Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und AfD, dass man darüber diskutieren müsse, ob das Alter der Strafmündigkeit für schwere Straftaten gesenkt werden müsse. Ob sich der Bundestag wirklich mit dem Thema befassen wird, bleibt abzuwarten. Eine in der vergangenen Woche beim Petitionsausschuss des Bundestages eingereichte Petition ebnet zumindest den Weg.
Das sagen die hiesigen Bundestagsabgeordneten
regionalHeute.de hat bei den hiesigen Bundestagsabgeordneten nachgefragt, ob sie der Auffassung sind, dass eine Reformierung des Jugendstrafrechts notwendig ist und wenn ja, auf welches Alter die Strafmündigkeit herabgesetzt werden sollte. Die von regionalHeute.de befragten Abgeordneten Victor Perli (Linke), Dunja Kreiser, Frauke Heiligenstadt, Hubertus Heil und Christos Pantazis (SPD), Karoline Otte und Frank Bsirske (Bündnis 90/Die Grünen) und Anikó Glogowski-Merten (FDP) waren sich bei der Frage, ob das Strafmündigkeitsalter herabgesetzt werden sollte, einig. Keiner der Angeordneten sieht die Notwendigkeit, das Jugendstrafrecht sofort zu verschärfen. Zumindest sollten die aktuellen Taten nicht dafür genutzt werden, vorschnelle Entscheidungen zu treffen. Eine grundsätzliche Debatte über die Strafmündigkeitsgrenze sollte aber geführt werden, meint Carsten Müller (CDU). Deutlich wurde aber vor allem, dass erzieherische Maßnahmen, Aufklärung und Prävention ein besserer Schlüssel zur Vermeidung von Straftaten bei Jugendlichen seien.
Aniko Glogowski-Merten - FDP
"Jedes Tötungsdelikt ist ein schreckliches und für die Hinterbliebenen unsagbar entsetzliches Ereignis. Wenn nun Kinder, wie jüngst - offenbar - zwei Mädchen - unter 14 - solch abscheuliche Taten begehen, lässt sich das kaum begreifen, nicht in Worte kleiden und macht tief betroffen. Natürlich können und dürfen schwere Verbrechen nicht folgenlos bleiben. Auch bei Kindern unter 14 Jahren hält unsere Rechtsordnung aber spezielle Instrumente des Kinder- und Jugendhilferechts sowie des Familienrechts bereit. Diese speziell auf kindliche Täter zugeschnittenen Instrumente bieten maßgeschneiderte Reaktionsmöglichkeiten. Ich sehe eine Herabsetzung des Alters im Jugendstrafrechts weiterhin nicht geboten. Im europäischen Vergleich befindet sich Deutschland mit 14 Jahren sogar im unteren Bereich. Auch aus Sicht vieler Experten herrscht große Skepsis bezüglich des Nutzens einer Absenkung der Strafmündigkeit oder gar Abschaffung des Jugendstrafrechts, wie es derzeit verstärkt diskutiert wird."
Karoline Otte - Bündnis90/Die Grünen
"Ich bin überzeugt, dass mögliche Reformen des Strafrechts und insbesondere des Jugendstrafrechts auf Basis von systematisch gesammelten Erkenntnissen beruhen müssen und nicht auf der Basis schockierender Einzelfälle. Daher sehe ich basierend auf den zurückliegenden Kriminalitätsstatistiken im Bund keine Grundlage für eine Verschärfung des Jugendstrafrechts. Eine Herabsetzung des Mindestalters für die Straffähigkeit von Jugendlichen würde nach bisherigen Erkenntnissen keinen erhöhten Schutz für mögliche Opfer bedeuten und somit keine weiteren schrecklichen Taten verhindern. Daher setze ich mich nicht dafür ein. Wenn Kinder Verbrechen begehen, müssen wir uns zuerst Fragen wie es so weit kommen konnte und wie wir mit Prävention und einer besser ausgestatteten Sozialarbeit solche Tragödien verhindern können."
Carsten Müller - CDU
„Es ist verständlich, dass durch die vermehrten Gewaltverbrechen unter Kindern und Jugendlichen die Diskussionen um die Absenkung des Alters der Strafmündigkeit und einer Reform des Jugendstrafrechts geführt wird. Ich persönlich sehe eine vorschnelle Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters jedoch als übereilte Reaktion auf die durchaus schockierenden und grausamen Taten der jüngsten Vergangenheit, zuletzt im Fall der getöteten 12-jährigen Luise aus Freudenberg. Kinder und Jugendliche sind heutzutage oftmals – insbesondere auch durch den Einfluss sozialer Medien – früher reifer als dies noch vor einigen Jahren der Fall war. Daher soll man eine Debatte über die Strafmündigkeitsgrenze und das Jugendstrafrecht im Allgemeinen führen, es sollten jedoch keine übereilten Reformen vor dem Hintergrund aktueller Taten beschlossen werden. Es sollte auch ein Blick in andere EU-Länder und auf die dortigen Erfahrungen geworfen werden, da dort die Altersgrenzen zum Teil erheblich von dem deutschen Strafmündigkeitsalter abweichen. Vor diesem Hintergrund sollte die Herleitung der derzeitigen Altersgrenze von 14 Jahren hinterfragt und geprüft werden.
Dunja Kreiser - SPD
"
Die beschriebenen Taten machen uns wohl alle fassungslos und wird sind in Gedanken bei den Eltern und Freunden der zu Tode gekommenen Kinder. Es sind grauenvolle Taten. Und für mich ist klar: Sie eignen sich nicht für Schnellschussforderungen. Das Thema ist ausgesprochen komplex. Tödliche Gewalt von Kindern gegen Kinder ist sehr selten. Werden Kinder Opfer von Gewaltverbrechen, dann meist aus ihrem direkten Umfeld wie dem Bekanntenkreis oder der Familie. Die neusten Zahlen zeigen allerdings, dass die Gewaltbereitschaft unter Kinder- und Jugendlichen nach vielen Jahren sinkender Statistikzahlen nun steigen. Kinder unter 14 Jahren sind bei uns grundsätzlich nicht strafmündig. Und dafür gibt es gute Gründe. Nur wer seine Handlung überblicken und die Tragweite überschauen kann, muss strafrechtliche Verantwortung tragen. Diese Fähigkeit setzt eine gewisse Reife und ein gewisses Alter voraus. Werden Kinder Täter greift eben nicht das Strafrecht, da Kinder die erforderliche Reife einfach nicht haben. Ohne Konsequenzen bleiben die Taten aber selbstverständlich nicht. Erst einmal müssen diese Kinder mit ihren Taten und der Schuld leben. Und ihre Familien müssen das auch." Eine Absenkung des Alters im Jugendstrafrecht sei nicht sinnvoll, so Kreiser und meint: „Statt Strafverschärfung sollte deshalb das Unterstützungssystem überdacht und sinnvolle erzieherische und therapeutische Maßnahmen zur Verfügung gestellt werden. Hinzu kommt, dass der Jugendstraffvollzug bereits jetzt überlastet ist und eine Verschärfung des Jugendstrafrechts nur zu einer weiteren Verschlechterung führen würde."
Frauke Heiligenstadt - SPD
Auch Frauke Heiligenstadt sagt klar, dass eine Reformierung des Jugendstrafrechts nicht notwendig sei. "Das Ziel des Jugendstrafrechts ist es, die erneute Straffälligkeit von Kindern und Jugendlichen zu verhindern. Das Jugendstrafrecht hat sich darin grundsätzlich bewährt und ist mittlerweile auch Teil internationaler Abkommen. Der im Jugendstrafrecht formulierte Erziehungsauftrag hat zu einem starken Rückgang an Jugendkriminalität geführt. Wir haben es hier nicht mit einem flächendeckenden Phänomen zu tun. Es sind Ausnahmefälle. Die Zahl der Straftaten durch Kinder ist rückläufig, auch wenn Fälle wie der in Freudenberg möglicherweise zunächst andere Annahmen vermuten lassen. Eine Herabsetzung der Strafmündigkeit würde gerade die Gruppe der Kinder am stärksten treffen, bei der die Kriminalität am stärksten zurückgegangen ist. In den meisten Ländern der Europäischen Union liegt die Grenze zur Strafmündigkeit grundsätzlich bei 14 beziehungsweise 15 Jahren. Dass die Altersgrenze nicht allzu relevant für das Verhindern solcher Straftaten ist, zeigen die Länder wie beispielsweise die USA und Großbritannien, in denen Kinder und Jugendliche mitunter bereits ab sechs beziehungsweise ab zehn Jahren strafrechtlich verfolgt werden und leider auch dort solche Ausnahmetaten wie in Freudenberg stattfinden. Studien zeigen außerdem: Je jünger die Jugendstrafgefangenen sind, desto höher ist ihre Rückfallquote.
Dr. Christos Pantazis - SPD
"Ich teile die Auffassung der Arbeitsgruppe Recht der SPD-Bundestagsfraktion und halte eine Absenkung des Strafalters derzeit nicht für erforderlich. Im strafrechtlichen Sinne bestraft werden kann nur, wer die erforderliche Reife hat, das Unrecht einer Tat einzusehen und danach zu handeln. Dem Täter oder der Täterin muss vorwerfbar sein, dass er/sie sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er/sie sich für das Recht hätte entscheiden können. Kinder können dies noch nicht", meint Pantazis und erklärt weiter: "Die in Deutschland geltende Altersgrenze von 14 Jahren entspricht der Regelung in den meisten Ländern der Europäischen Union. Die Altersgrenze liegt in vielen Ländern sogar höher: In Portugal und Luxemburg liegt sie bei 16 Jahren. In Dänemark, Finnland, Griechenland, Island, Norwegen und Polen beginnt die Strafmündigkeit mit dem 15. Lebensjahr. Wir verfolgen die fachliche Diskussion zur entsprechenden Reife von Kindern. Neue wissenschaftliche Evidenz für eine niedrigere Altersgrenze ist uns allerdings nicht bekannt. Forscherinnen und Forscher weisen im Gegenteil darauf hin, dass der Reifeprozess aufgrund der Vielzahl der Einflüsse heute länger dauert als noch im letzten Jahrhundert, in dem Jugendliche oft bereits mit 14 Jahren eine Lehre begannen. Tragische Einzelfälle sollten deswegen nicht Anlass für populistische Strafverschärfungen geben."
Victor Perli - Die Linke
"Schwere Gewalttaten von Kindern und unter Jugendlichen sind entsetzlich und machen fassungslos. Den Opfern und ihren Angehörigen gebührt volle Solidarität und Unterstützung. Diese Gewalttaten sind Ausdruck einer offensichtlichen gesellschaftlichen Verrohung. Mir fehlt in der Debatte ein Innehalten und ein Nachdenken darüber, wo diese Gewalt herkommt, was in unserer Gesellschaft schief läuft. In den letzten Jahren häufen sich Berichte über die Zunahme von psychischen Problemen bei Kindern und Jugendlichen. Soziale Arbeit wie die Kinder- und Jugendhilfe wurde in den letzten Jahrzehnten massiv vernachlässigt, das Bildungssystem ist in einem schlechten Zustand, die Schere zwischen Arm und Reich wird immer größer. Das alles hat negative Folgen und muss geändert werden.
Ein Blick zum Beispiel in die USA zeigt, dass ein immer schärferes Strafrecht schlimme Gewalttaten nicht verhindert und auch nicht zu geringeren Fallzahlen führt. Es braucht bei Jugendstraftaten rasche Konsequenzen, dafür gibt es im Jugendstrafrecht zahlreiche Mittel und Möglichkeiten. Statt einer Verschärfung des Strafrechts braucht es mehr soziale Gerechtigkeit, eine Offensive für einen solidarischen Sozialstaat und das Recht auf gute Kitas, gute Schulen und eine gute Ausbildung. Das hilft Kindern und Jugendlichen am meisten, nicht straffällig zu werden."
Frank Bsirske - Grüne
"Meine Gedanken gelten den Eltern und Angehörigen des Opfers dieser furchtbaren, nicht zu begreifenden Tat. Es ist wichtig, dass sie in dieser schweren Zeit Hilfe und eine langfristige Unterstützung erhalten. Grausame Taten wie diese, bei denen nicht-strafmündige Kinder die Tatverdächtigen sind, sind zum Glück sehr selten. Jeder einzelne Fall ist natürlich äußerst tragisch und schockierend. Eine Absenkung des Strafmündigkeitsalters trägt nicht dazu bei, solche Taten zu verhindern. Daher finde ich diese Diskussion nicht sinnvoll. Stattdessen sollten wir uns auf die Jugendhilfe und Gewaltprävention konzentrieren. Das wäre ein echter Beitrag, um in Zukunft Gewalttaten zu verhindern."
Auch Bundesminister für Arbeit und Soziales und SPD-Abgeordneter für den Wahlkreis Gifhorn/Peine, Hubertus Heil, baten wir um ein Statement. Heil ließ durch sein Büro ausrichten, dass er sich zu Fragen des Jugendstrafrechts und zu einzelnen Gewaltverbrechen nicht äußere. Man verwies "für Einschätzungen an die zuständigen Stellen bei der Polizei und Justiz".
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