Ungeschützt in der Krise - Werden Behinderteneinrichtungen von der Politik vernachlässigt?

Bund, Länder und Kommunen halten im Zuge der Corona-Krise Konzepte für Pflegeheime und Kliniken vor - Einrichtungen der Behindertenhilfe müssen sich die für sie geltenden Regeln häufig selbst herleiten.

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(Symbolbild) | Foto: Pixabay

Region. Während für Pflegeheime, Krankenhäuser und Arztpraxen detaillierte Pläne rund um die Corona-Krise ausgearbeitet wurden, werden Wohneinrichtungen für körperlich oder geistig beeinträchtigte Menschen oftmals sich selbst überlassen. Dies ergab eine Anfrage bei mehreren Stellen der Lebenshilfe in der Region. Einheitliche Konzepte des Landes existierten nicht, lassen sich höchstens aus bestehenden Verordnungen ableiten. Lediglich die Lebenshilfe Braunschweig sieht sich durch die Stadt offenbar hervorragend unterstützt.


"Vorgaben des Landes gibt es so gut wie keine, da offensichtlich die Landesregierung die Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen nicht im Blick hat", erklärt beispielsweise Uwe Hiltner, Geschäftsführer der Lebenshilfe Peine-Burgdorf. Die Lebenshilfe Peine-Burgdorf und Goslar haben in der aktuellen Situation eigene Krisenstäbe eingerichtet, um die eingeleiteten Maßnahmen täglich neu zu beurteilen und bestmöglich mit der Situation umzugehen: "Dank der hohen Flexibilität unserer Mitarbeitenden, der vorsorglichen Schaffung zusätzlicher Räumlichkeiten und einem guten Austausch mit anderen Lebenshilfen können wir uns auf eine eventuelle Corona-Infizierung und –Ausbreitung im Unternehmen vorbereiten. Wie weit die Vorsorgemaßnahmen im Ernstfall greifen, können wir jedoch nicht beurteilen", sagt Clemens Ahrens, Geschäftsführer der Lebenshilfe Goslar.

Auch in Peine wurden laut Uwe Hiltner durch die eigene Betriebsärztin und den Hygienebeauftragten Konzepte entwickelt, die jetzt Anwendung finden: "Im jetzigen Alltag ist das handhabbar, sowie allerdings eine Infektion oder gar Erkrankung vorliegt, werden wir auf die Hilfe öffentlicher Institutionen angewiesen sein."

Infektionen liegen in allen Einrichtungen der beiden Lebenshilfen noch nicht vor. In Braunschweig sei jedoch ein Fall unter Mitarbeitenden bekannt. Detlef Springmann, Geschäftsführer der Lebenshilfe Braunschweig dementiert jedoch, dass die Einrichtungen ungenügend beachtet würden: "Selbstverständlich gibt es auch Schutzkonzepte in Wohneinrichtungen und anderen Dienstleistungen der Behindertenhilfe. So haben wir in Braunschweig bereits seit über drei Jahren ein sogenanntes Hygienehandbuch und werden regelmäßig von einem Facharzt in Sachen Hygiene begleitet. Dieses Hygienehandbuch ist im Rahmen der Corona-Pandemie angepasst worden."

Psychische Situation ist angespannt


Während die organisatorische Lage in vielen Einrichtungen zumindest in vielen Fällen von den Einrichtungen abhängt, gibt es aber auch einen Faktor, der vereint. "Unsere Bewohnerinnen und Bewohner dürfen überwiegend derzeit nicht arbeiten, haben keine Freizeitmöglichkeiten außerhalb der Einrichtung und können keinen Besuch empfangen. Da ist Langeweile vorprogrammiert", berichtet uns beispielsweise Clemens Ahrens von der Lebenshilfe Goslar. Hinzu käme insbesondere bei Personen mit geistigen Beeinträchtigungen die fehlende Einsichtsfähigkeit, wenn es zum Beispiel um das Kontaktverbot zu Angehörigen gehe. Eine Erfahrung, die auch Uwe Hiltner (Lebenshilfe Peine-Burgdorf) gemacht hat. Entsprechende Personen müssten "mit pädagogischen Fachkräften behutsam bei diesen Maßnahmen unterstützt werden."

Zum Teil mehrfache Vorerkrankungen


In den Einrichtungen aller drei Lebenshilfen (Braunschweig, Peine und Goslar) arbeiten zum Großteil keine Pflegekräfte, sondern Pädagoginnen und Pädagogen in der Betreuung der Bewohner. Im Falle einer Infektion vor Ort fehlt die medizinische Expertise, die beispielsweise bei Altenpflegeeinrichtungen und in Kliniken vorhanden ist. Umso schwerer wiegt, dass besonders in den Wohneinrichtungen Risikopatienten leben, wie Detlef Springmann von der Lebenshilfe Braunschweig hervorhebt: "Einige der Bewohnerinnen und Bewohner haben schwere und mehrfache Beeinträchtigungen sowie Vorerkrankungen und ein bereits geschwächtes Immunsystem." Er ergänzt: "Der politisch verordnete Schutz für Risikogruppen gilt selbstverständlich auch für die Menschen mit Beeinträchtigung, die wir begleiten."

Schutzausrüstung fehlt auch hier


Der allgemeine Mangel an Schutzausrüstung sei auch in den Einrichtungen der Lebenshilfe zu spüren. Die Stadt Braunschweig hat hierzu zusammen mit allen Wohlfahrtsorganisationen ein Konzept zur Beschaffung entwickelt, dass keinen Unterschied zwischen den Wohneinrichtungen der Lebenshilfe und anderen Pflegeeinrichtungen mache, wie Springmann erklärt: "Wir sind mit den Anbietern im regelmäßigen Kontakt und erhalten Teillieferungen. Auch Spenden haben wir bereits erhalten. Wir selbst nähen seit einer Woche Mund-Nasen-Masken, die wir zum Schutz unserer Bewohnerinnen und Bewohner selbst nutzen und zukünftig auch anderen Organisationen zur Verfügung stellen." Auch die Einrichtungen in Peine und Goslar haben inzwischen selbst mit der Fertigung von Gesichtsmasken begonnen, Uwe Hiltner betont jedoch, dass dies nur als Behelfsmittel betrachtet werden könne. In Peine und Goslar kümmere man sich selbst um die Beschaffung von Schutzmaterialien und erhalte häufig Absagen in dem Sinne, dass Materialien nicht lieferbar seien. Der Geschäftsführer stellt klar: "Sollte in einer unserer Wohnstätten für Menschen mit Behinderung eine Infektion vorliegen oder gar eine Erkrankung, hätten wir nicht genügend Schutzausrüstung." Zu den Beschaffungsproblemen kommt auch noch, dass die Preise für entsprechende Ausrüstung durch die Knappheit in der Corona-Krise ins Unermessliche gestiegen seien, wie Hiltner und Ahrens berichten.

Maßgaben der Politik verunsichern


"Behinderte Menschen sind lange Zeit im Rahmen des Krisenmanagements von Bundes- und Landesregierung nicht angemessen berücksichtigt worden", fasst der Goslarer Lebenshilfe-Geschäftsführer die Situation klar zusammen. Aufgrund massiver Intervention der Verbände habe sich das inzwischen wenigstens "etwas" geändert. Uwe Hiltner appelliert, die Einrichtungen der Behindertenhilfe nicht weiter im Unklaren zu lassen: "Wichtige Maßnahmen, die durch die Landesregierung und Landkreise veranlasst werden, richten sich immer an andere Personenkreise, sodass wir gehalten sind, Herleitungen zu treffen, inwieweit dies auch für Menschen mit Behinderungen zutrifft. Damit begeben wir uns immer wieder in einen rechtsfreien Raum mit entsprechender Verunsicherung unserer Mitarbeitenden, der Angehörigen und gesetzlichen Betreuer und nicht zuletzt der Menschen mit Behinderungen."

Fachlich nicht haltbar


Hinzu komme aus Sicht Hiltners, dass viele spezielle Fragen überhaupt keine Antwort erhielten oder fachlich nicht haltbar seien: "So lautet etwa eine Verfügung, dass das Betreten ambulanter Dienste untersagt wäre. Das ist aber gar nicht das Problem. Ambulante Dienste werden in der Regel nicht von den Menschen mit Behinderungen betreten, sondern die ambulanten Dienste suchen die Menschen mit Behinderungen in ihrer privaten Sphäre auf."

Detlef Springmann berichtet aus Braunschweig noch von einem ganz anderen Problem: "Es brechen uns derzeit für unsere heilpädagogischen Kindergärten und unsere Werkstätten für behinderte Menschen die Einnahmen weg." Hier fehle eine verlässliche Aussage seitens der Kommunen und des Landes: "Eine länger andauernde Situation würde die Lebenshilfe Braunschweig in eine schwierige wirtschaftliche Schieflage bringen."

Es bleibt also abzuwarten, wie sich die Situation weiter entwickelt. Im Falle einer Infektion in einer der Einrichtungen der Lebenshilfe scheint zumindest unklar, wie genau verfahren werden könnte. Zudem herrsche häufig der Irrtum, dass in Wohneinrichtungen für beeinträchtigte Personen medizinisch geschultes Personal arbeite, sodass es Medienberichten zufolge auch schon zu Ablehnungen von Patienten in Krankenhäusern gekommen sei, da man diese für ausreichend medizinisch versorgt hielt: "Wie zum Beispiel ein Krankenhaus bei der Aufnahme eines Infektions- oder Erkrankungsfall reagiert, vermag ich nicht vorherzusehen. Ich sehe aber durchaus die beschriebene Gefahr", kommentiert Hiltner von der Lebenshilfe Peine dieses Problem. Der Appell aller drei Lebenshilfen ist jedoch klar: Schnelle Hilfen und klare Vorgaben, damit es nicht erst zu dramatischen Situationen wie jüngst im Hanns-Lilje-Heim in Wolfsburg kommen muss.


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